Karin Kramer Verlag Leseproben

Bernd Drücke (Hg.)
JA!  ANARCHISMUS
Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert

Interviews und Gespräche
3-87956-307-1  /   280 Seiten  /  zahlreiche Abbildungen
Euro (D) 19,80  /  sFr 33,90


INHALT

Vorwort   Vorwort des Herausgebers
Anarchismus im 21. Jahrhundert

Kapitel 1: Anarchismus und Kultur

"Anarchismus, eine Philosophie des Friedens."
Ein Gespräch mit dem Filmemacher Peter Lilienthal

"Wirklich filmreif, die Geschichte."
Zur Geschichte der Rockband Cochise. Ein Gespräch mit Pit Budde

"Lust auch auf die Anarchie."
Ein Interview mit dem Straßenmusiker Klaus der Geiger

"Poetry for Anarchy."
Ein Interview mit Michael Halfbrodt und Ralf Burnicki zum zehnten Geburtstag des Literaturprojekts Blackbox

"Wir sind gar nicht anarchistisch!"
Ein Gespräch mit der Kabarettgruppe Der Blarze Schwock

Kapitel 2: Anarchistische Medien und Verlage

Subversive Kopffüßler?
Ein Gespräch mit Hanna Mittelstädt und Lutz Schulenburg zum dreißigsten Geburtstag der Edition Nautilus

"Das A im strahlenden Kreis." Von linkeck zu Bakunin - 35 Jahre Karin Kramer Verlag.
Ein Interview mit Karin und Bernd Kramer

"Den Schwarzen Faden weiterspinnen?"
Ein Interview mit dem SF-Mitbegründer Wolfgang Haug

Kapitel 3: Gewaltfreier Anarchismus und Graswurzelrevolution

Für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft.
Interviews mit Helga Weber und Wolfgang Zucht (Verlag Weber & Zucht)

"Eine lebendige Institution."
Zur Geschichte und Zukunft der Graswurzelbewegung und ihres Organs. Ein Interview mit GWR-Mitbegründer Wolfgang Hertle

Dreihundert Ausgaben gelebte Utopie. Rollenwechsel.
Lea Hagedorns Gespräch mit dem GWR-Redakteur Bernd Drücke

Vorwort   "Otkökü" - Graswurzelbewegung in der Türkei.
Ein Interview mit dem Kriegsdienstverweigerer Osman Murat Ülke

Kapitel 4: Anarchafeminismus und soziale Revolution

"Ich hatte Fragen, und Anarchismus war vielleicht die Antwort."
Ein Gespräch mit Marianne Enckell (CIRA, Lausanne)

Anarchismus und Revolution
Ein Gespräch mit der Autorin Monika Grosche (FAU Bonn)

"Ich träume noch immer von der Revolution."
Ein Interview mit der Ex-Stadtguerrillera Ilse Schwipper

Kapitel 5: Gelebte Utopie

Projekt A / Plan B
Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Horst Stowasser

Jede Kommune ist anders
Ein Küchentischgespräch mit Uwe Kurzbein (Kommune Olgashof)

Gel(i)ebtes Leben. Marie-Christine Mikhailo (geboren am 11. Oktober 1916, gestorben am 8. November 2004). Ein Nachruf.

Uff - im Alter von 70 ist das Schlimmste vorbei!
Marie-Christine Mikhai-lo: Persönliche Gedanken zum Altwerden in der anarchistischen Bewegung

Anhang

Ausgewählte Literatur
Bildnachweise
Danksagung
Vita des Herausgebers




 

Vorwort des Herausgebers

Anarchismus im 21. Jahrhundert


Anarchismus im 21. Jahrhundert? Das gibt es doch gar nicht!
Ja gut ..., damals, 1936 in Spanien, da haben sich Millionen Menschen gegen den faschistischen Putsch des General Franco erhoben und - trotz Bürgerkrieg - in großen Teilen des Landes einen "kurzen Sommer der Anarchie" verwirklicht. Aber all das ist siebzig Jahre her - wer kennt das schon noch?
Noch unbekannter dürfte sein, dass Anfang der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts in Deutschland eine relativ große anarchistische Bewegung existierte. Rund 150.000 Menschen, überwiegend Industriearbeiter, waren 1920 in der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft Freie Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) organisiert. Der Syndikalist, ein Sprachrohr der FAUD, erreichte zeitweise eine wöchentliche Auflage von bis zu 120.000 Exemplaren, und im Ruhrgebiet erschien sogar eine anarchistische Tageszeitung: Die Schöpfung.
Schön und gut. Aber heute? Nirgends eine Spur von Anarchismus zu sehen.
Außer natürlich im Kinderzimmer!
Die von Elfie Donnelly geschaffene Hexe Bibi Blocksberg agiert seit 1980 als Heldin eines Hörspiel-Renners mit 83 Folgen und über 35 Millionen verkauften Kassetten. Und auch der Elefant Benjamin Blümchen wirkt seit 1977 mit 102 Folgen und 60 Millionen verkauften Kassetten weit erfolgreicher und subversiver, als wir es mit einer eigenen anarchistischen Kinderzeitung je sein könnten.
Wer bisher gedacht hat, die Benjamin Blümchen-Hörspielkassetten seien deshalb kinder- und jugendgefährdend, weil das dauernd aus dem Kinderzimmer zu vernehmende "Töröööö" des sprechenden Dickhäuters bei nicht wenigen Eltern beinahe zum Hirnschlag geführt und somit viele Kinder zu Vollwaisen gemacht hätte, irrt sich.
Benjamin Blümchen ist jugendgefährdend, weil er Anarchist ist! Durch seine beharrliche Agitation im Kinderzimmer ist er dafür verantwortlich, dass aus den Kleinen später einmal aufrechte Genossinnen und Genossen werden. Ähnlich jugendgefährdend, weil ebenso anarchistisch, ist Benjamins Genossin Bibi.
Wer's nicht glauben mag, dem sei die Lektüre von Spiegel online empfohlen. Unter der Überschrift "Wie Bibi Blocksberg Kinder politisch verhext" ist dort folgendes zu lesen:
"Die Hörspiele mit Benjamin Blümchen und Bibi Blocksberg (...) vermitteln politische Zerrbilder, behauptet Gerd Strohmeier, 30. Im Interview erklärt der Passauer Politologe, warum der Elefant und die kleine Hexe für anarchistische Positionen stehen. (...)
Strohmeier: In kaum einer anderen Hörspielserie wird so ein starker politischer Bezug hergestellt wie bei Benjamin Blümchen und Bibi Blocksberg, die beide in dem fiktionalen Ort Neustadt spielen. Die Hörspiele richten sich an Kinder im Alter bis zu zwölf Jahren, also genau die Zeit, in der sich die politische Grundpersönlichkeit herausbildet. Die ist zwar noch recht holzschnittartig, aber daraus entstehen dann später politische Einstellungen. (...) Das Politikbild, das in den von mir untersuchten Hörspielfolgen vermittelt wird, ist sehr bedenklich. Die Politiker werden durch den Bürgermeister von Neustadt repräsentiert, und der ist inkompetent, korrupt und immer nur an seinem eigenen Wohl interessiert. Er lässt sich von seinem Assistenten als ‚Majestät' behandeln und übergeht ständig den Stadtrat. Entscheidungen werden nicht demokratisch, sondern autokratisch getroffen. (...) Benjamin Blümchen und Bibi Blocksberg (...) bilden zusammen mit der Reporterin Karla Kolumna eine Koalition der Guten. Karla Kolumna ist gewiss etwas sensationsgierig, deckt aber die Schandtaten des Bürgermeisters auf, berichtet objektiv und orientiert sich am Gemeinwohl. Mit ihren Artikeln mobilisiert sie die Neustädter Bürger. Sie tauchen dann ebenfalls auf der ‚richtigen' Seite auf, die man als linksliberal bis linksalternativ beschreiben kann. Die Hör-spielhelden sind pazifistisch, egalitär, bisweilen anarchisch und antikapitalistisch eingestellt.
SPIEGEL ONLINE: Benjamin und Bibi sehen Sie tatsächlich als Anarcho-Rebellen?
Strohmeier: Die Wirtschaft wird grundsätzlich negativ dargestellt. Figuren wie Herr Schmeichler oder Ulrich Umsatz lügen und betrügen, um ihren eigenen Profit zu maximieren. Polizisten erscheinen als verlängerter Arm des Bürgermeisters. Dazu kommen Aussagen wie ‚Wir haben zu viel Ordnung in diesem Land'. Ich denke, hier spiegeln sich die politischen Einstellungen der Erfinderin wider. (...)
SPIEGEL ONLINE: Heißt das: Kinder, die Benjamin Blümchen hören, werden später zu politikverdrossenen Antidemokraten?
Strohmeier: (...) Politische Sozialisation ist ein vielschichtiger Prozess. Da wird man keine 1:1-Wirkung feststellen können. Allerdings sind diese Hörspiele der Entwicklung zum mündigen Bürger nicht förderlich, das kann man schon so sagen. Wo sonst erfahren Kinder in diesem Alter denn politische Bezüge? Im Gespräch mit Eltern ist das eher selten der Fall. Sie nehmen vor allem auf, was sie in den Kassetten hören. (...)
SPIEGEL ONLINE: Sollten Eltern ihren Kindern nun verbieten, Kassetten von Bibi Blocksberg und Benjamin Blümchen zu hören?
Strohmeier: Nein, das nicht. Aber sie sollten sich darüber im Klaren sein, dass die Hörspiele politisch auf keinen Fall das Prädikat ‚wertvoll' verdienen."
Spaß beiseite! Gibt es Anarchisten nur noch als Zerrbilder und Klischees?

"Anarchisten" torkeln mittlerweile also eher als Benjamin Blümchen-Karikaturen durch die Köpfe von Wissenschaftlern, Spiegel-Leserinnen und -Lesern, also Menschen, die allesamt "mehr wissen" wollen und sollten?
Viel verbreiteter und langlebiger ist allerdings das Zerrbild des Bomben werfenden Anarchos im schwarzen Kittel. Es ist aber längst nicht mehr so virulent und für Libertäre so bedrohlich wie noch vor wenigen Jahren.
Versetzen wir uns kurz zurück in die Bundesrepublik der 1970er und 80er Jahre, in die Zeit der "Terroristenhysterie" und "Anarchistenhatz".
Der damalige bayrische Ministerpräsident Franz Josef Strauß tönte: "Die Außergesetzlichen haben in gröbster Weise die öffentliche Ruhe und Ordnung gestört (...) Diese Personen nützen nicht nur alle Lücken der Paragraphen eines Rechtsstaates aus, sondern benehmen sich wie Tiere, auf die die Anwendung der für Menschen gemachten Gesetze nicht möglich ist." Er brachte damit die in der Bevölkerung weit verbreitete Stimmung auf den Punkt: "Wir wollen keine Anarchie und keine Terrorbanden."
Auf den Fahndungsplakaten prangten unter dem Titel "ANARCHISTEN - Vorsicht Schusswaffen" die Gesichter von gesuchten Mitgliedern der Roten Armee Fraktion (RAF).
Diese verstand sich selbst zwar als eine marxistisch-leninistische Kadergruppe und distanzierte sich ausdrücklich vom Anarchismus. Die "Leninisten mit Knarre" wurden aber als "anarchistische Gewalttäter" gejagt. Die permanente Verwendung der Begriffe "Anarchist" und "Anarchie" als Schlagwörter in bürgerlichen Medien sorgte für eine verhängnisvolle Identifizierung mit "Terror" und führte zu einem aggressiven Klima, bis hin zu gelegentlichen Lynchjustizgelüsten.
So spukte das Klischee vom langhaarigen Bombenleger nicht nur bald in den meinungs- und maßgebenden Köpfen der Herrschenden in Politik, Unternehmen und Medienkonzernen. Der Hass auf "Anarchisten" wurde Teil des Mainstreams. Was nicht bedeutete, dass den Leuten die Bedeutung des Begriffs bekannt gewesen wäre. Das bürgerlich-liberale Bewusstsein war größtenteils nicht in der Lage, zwischen kommunistischen und anarchistischen, militanten und gewaltfreien Linken zu unterscheiden. Für die meisten war das alles einfach "der Sympathisantensumpf"".
Eine differenziertere öffentliche Wahrnehmung realer anarchistischer Personen oder gar ihrer konstruktiven Positionen?
Fehlanzeige.

Der oben zitierte Franz Josef Strauß hat 1988 im wahrsten Sinne des Wortes die Flinte ins Korn geworfen. Während einer Treibjagd erlitt der Hobby-Jäger einen tödlichen Herzinfarkt. So fanden auch seine politischen Treibjagden ein Ende, auf "Anarchisten" oder "langhaarige, verdreckte Vietconganhänger, die da öffentlich Geschlechtsverkehr treiben unter Bäumen."

Das Wort "Anarchist" wurde seit seiner Entstehung stets auch immer als Schmähbegriff benutzt, nicht zuletzt seit seinem ersten Auftritt auf der Bühne politischer Ereignisse in den Jahren nach 1793 und nicht erst infolge einer neo-anarchistischen Bewegung in den 1960er Jahren. Kontinuierlich diente es der Diffamierung des jeweiligen politischen Gegners - als Synonym für "Chaot", "Terrorist" oder "Gewalttäter".
Und heute? "Anarchie in Liberia", "Anarchie in Haiti", "Anarchie in Frankreichs Stadt-Ghettos", "Anarchie in New Orleans", ... wenn überall dort, wo nach Angaben von Spiegel, FAZ, taz und Co. "Anarchie herrscht", eine herrschaftsfreie Gesellschaft existierte, dann gäbe es ja dort, wenigstens in Ansätzen, geradezu paradiesische Zustände! Tatsächlich handelt es sich aber hier, auch nach über zweihundert Jahren, noch immer um die übliche geistlose Gleichsetzung von "Anarchie" mit "Chaos und Terror".
Ein Beispiel für diese Verdrehung des Anarchiebegriffs in sein genaues Gegenteil liefert auch die Berichterstattung zum 2003 vom Zaune gebrochenen Krieg der USA und ihrer "Koalition der Willigen" im Irak. So weiß das Nachrichtenmagazin Der Spiegel unter der Überschrift "Kampf gegen die Anarchie" zu berichten: "Die Amerikaner wollen der wuchernden Anarchie im Irak nicht länger zusehen." Auch die Süddeutsche Zeitung beschäftigt sich mit der angeblichen "Anarchie im Irak". Ihr Redakteur Stefan Kornelius kommentiert in der SZ vom 20. August 2003 die Situation nach dem Anschlag auf das UNO-Gebäude als "Logik der Anarchie" und liefert auch gleich eine Definition: "Anarchie ist der Zustand der Rechtlosigkeit, Anarchie steht für die Auflösung aller Herrschaft, für Willkür, Chaos, die Abwesenheit aller ordnenden Gewalt."
Dabei ist die Wahrheit ebenso banal wie augenfällig: Menschenfeindliche Verhältnisse wie im Irak wurden und werden durch die Herrschaft von Menschen über Menschen, durch Staatsterrorismus, Militär und Krieg herbeigeführt. Das, was im Irak und in anderen Kriegsgebieten tagtäglich geschieht, hat mit staatlicher Gewalt und Gegengewalt zu tun, aber rein gar nichts mit Anarchie.

Anarchie - eine notwendige Begriffsklärung

Mit der Wirklichkeit und dem Selbstverständnis von Menschen, die den Begriff "Anarchist" beziehungsweise "Anarchistin" für sich verwenden, haben die dominierenden Klischees nichts gemein. Um so langlebiger jedoch sind solche Entstellungen.
Das hat unter anderem zur Folge, dass viele Menschen, die eigentlich anarchistisch fühlen und denken, sich nicht selbst als "Anarchisten" bezeichnen beziehungsweise nicht als solche bezeichnet werden wollen. Manche bevorzugen deshalb lieber die weniger verfänglichen Begriffe "Libertäre", "libertäre Sozialistin" oder "freiheitlicher Sozialist", wenn sie sich selbst benennen möchten.
Eines haben sie alle gemein: Libertäre, freiheitliche Sozialisten, Anarchistinnen und Anarchisten wollen weder herrschen noch beherrscht werden. Sie wollen nicht Chaos und Terror, sondern streben eine klassenlose, freiheitlich-sozialistische und menschengerechte Welt an, eine Ordnung ohne Herrschaft: die Anarchie.

Werfen wir einen Blick auf die Geschichte der Anarchie und des Anarchismus.
Der semantische Ursprung des Wortes "Anarchie" findet sich in der griechischen Sprache. "Anarchie" wird von "an-archia" (αναρχíα - ohne Herrschaft) abgeleitet. In der Antike benutzten die Griechen den Begriff für die Zeit zwischen den Wahlen, für einen Zustand ohne Führung.
Zweieinhalbtausend Jahre später definiert die freie Enzyklopädie Wikipedia Anarchie als "Idee einer herrschaftsfreien und gewaltlosen Gesellschaft, in der Menschen ohne politischen Zwang (Macht) und Herrschaft gleichberechtigt und ohne Standesunterschiede miteinander leben und sich so frei entfalten können. Ein Mensch, der nach diesen Idealen lebt, oder einer, der eine herrschaftsfreie Gesellschaft anstrebt, wird als Anarchist bezeichnet."
Auch für Immanuel Kant hatte Anarchie nichts mit Bomben zu tun; er definierte sie als "Gesetz und Freiheit ohne Gewalt".
Die russisch-amerikanische Anarchistin Emma Goldman (1869-1940) sah den Anarchismus im Jahre 1911 als "Philosophie einer neuen sozialen Ordnung, deren Grundlage die Freiheit ist, uneingeschränkt durch von Menschen geschaffene Gesetze". Anarchismus sei die Theorie, dass alle Formen von Herrschaft auf Gewalt beruhen und folglich übel, schädlich und unnötig seien. Der Anarchismus bedeute die Befreiung des menschlichen Geistes aus der Herrschaft der Religion; die Befreiung der menschlichen Kraft aus der Herrschaft des Eigentums; die Befreiung von den Fesseln und dem Zwang durch die Regierung. Anarchismus bedeute eine soziale Ordnung, die auf der freien Vereinbarung Einzelner, mit dem Zweck wirklichen sozialen Wohlstand zu schaffen, beruhe, eine Ordnung, die jedem menschlichen Wesen freien Zugang zur Erde und vollen Genuss des zum Leben Notwendigen, entsprechend individuellen Wünschen, Neigungen und Bedürfnissen, zusichern werde. Der Anarchismus sei nicht eine Theorie über die Zukunft, die durch göttliche Erleuchtung verwirklicht werden solle. Er wirke als lebendige Kraft in unseren Lebensangelegenheiten und schaffe beständig neue Bedingungen. Die Methoden des Anarchismus unterlägen folglich keinem starren Programm, das es unter allen Umständen durchzusetzen gelte.
Der "Anarchismus, dieses großartige Gift des Denkens, dringt heute in jeden Bereich menschlichen Strebens ein. Wissenschaft, Kunst, Literatur, das Drama, die Bemühungen um wirtschaftliche Verbesserungen, wahrhaftig jeder individuelle und soziale Widerstand gegen die bestehende Unordnung der Verhältnisse wird durch das geistige Licht des Anarchismus erhellt. Er ist die Philosophie der Souveränität des Individuums. Er ist die Theorie der sozialen Harmonie."
Auch für Emma Goldmans langjährigen Lebensgefährten Alexander Berkman (1870-1936) war Anarchismus "die vernünftigste und praktische Konzeption eines gesellschaftlichen Lebens in Freiheit und Harmonie".
Und der italienische Anarchist Errico Malatesta (1853-1932) beantwortete die Frage "Warum sind wir Anarchisten?" wie folgt:
"Abgesehen von unseren Vorstellungen über den politischen Staat und die Regierung, das heißt die zwangsmäßige Organisation der Gesellschaft, die unser spezifisches Wesensmerkmal bilden, abgesehen auch von unseren Ideen über die beste Möglichkeit, allen Menschen die Benutzung der Produktionsmittel und die Beteiligung an den Vorteilen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu garantieren, sind wir Anarchisten aufgrund unseres Gefühls, das die Triebfeder sämtlicher gesellschaftlicher Erneuerer ist, ohne das unser Anarchismus eine Lüge oder ohne Sinn wäre. Dieses Gefühl ist die Liebe zu den Menschen, ist die Tatsache, an den Leiden der anderen zu leiden. (...) wenn ich esse, dann kann ich keinen Geschmack daran finden, wenn ich denke, dass Menschen Hungers sterben; wenn ich meiner kleinen Tochter ein Spielzeug kaufe und ganz glücklich über ihre Freude bin, dann wird diese Freude schnell getrübt, wenn ich vor dem Schaufenster des Händlers Kinder mit weit aufgerissenen Augen sehe, die mit einem Pfennigpüppchen glücklich gemacht werden könnten; wenn ich mich vergnüge, dann verdüstert sich mein Gemüt, sobald mir in den Sinn kommt, dass es Unglückliche gibt, die im Kerker schmachten; wenn ich studiere oder eine Arbeit mache, die mir gefällt, empfinde ich so etwas wie Gewissensbisse, wenn ich daran denke, wie viele es gibt, die klüger sind als ich und gezwungen sind, ihr Leben in einer abstumpfenden, oft unnützen oder schädlichen Arbeit zu vergeuden.
Reiner Egoismus, wie ihr seht, doch ein Egoismus, den andere Altruismus nennen und ohne den niemand ein wirklicher Anarchist sein kann."

Anarchismus heute

Der moderne Anarchismus ist eine Weltanschauung, die davon ausgeht, dass die Herrschaft von Menschen über Menschen (Führer, Chefs, staatliche Herrschaft, Hierarchie, ...) gewaltsam und durch nichts gerechtfertigt ist. Herrschaft stellt eine Form von Unterdrückung dar und muss deshalb aufgehoben werden.
Im Mittelpunkt dieser libertären Weltanschauung stehen positive Begriffe wie Freiheit, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Selbstverwaltung der Individuen; die Ausübung von Zwang wird abgelehnt.
Anarchie ist das Ziel, Anarchismus der Weg dahin.
Der Anarchismus entwickelte sich von einer Denkschule zu einer eigenständigen sozialen Bewegung, die sich eine herrschaftsfreie, freiheitlich-sozialistische Gesellschaft auf ihre schwarzen und schwarz-roten Fahnen schrieb. In ihren frühen Tagen formulierte der russische Anarchist Michail Bakunin (1814-1876): "Jedes menschliche Wesen ist das unfreiwillige Produkt des natürlichen und sozialen Milieus, in dem es geboren ist, sich entwickelt hat, und dessen Einfluss es weiter empfindet. (...) Um eine radikale Revolution zu machen, muss man also die Stellungen und Dinge angreifen, das Eigentum und den Staat zerstören, dann wird man nicht nötig haben, Menschen zu zerstören und sich zu der unfehlbaren, unvermeidlichen Reaktion zu verurteilen, die in jeder Gesellschaft das Massaker von Menschen stets herbeiführte und stets herbeiführen wird."
Seit 160 Jahren prägen diese Worte jene vielseitige internationale soziale Bewegung namens Anarchismus.
Sind das noch Themen, für die sich die Menschen unserer Zeit interessieren?
Heute liegt die Zahl der Menschen, die sich in der Bundesrepublik selbst als Libertäre, Anarchistinnen oder Anarchisten sehen, vielleicht zwischen 2.000 und 20.000. Die Schätzungen von Anarchismusforschern einerseits und dem Verfassungsschutz andererseits gehen weit auseinander. Die tatsächliche Zahl liegt womöglich irgendwo in der Mitte.
Als aktive Teilnehmerinnen und Teilnehmer an sozialen Bewegungen produzieren Libertäre zum Beispiel Zeitschriften und Bücher, mobilisieren zu Aktionen oder initiieren soziale Projekte.
Der Gegenwartsanarchismus wird ab und an auch öffentlich sichtbar, etwa bei Demonstrationen gegen Sozialkahlschlag, gegen Nazis, Krieg, Militarismus, Sexismus und Rassismus.
Und sonst?
Für viele der oftmals studentischen Aktivistinnen und Aktivisten folgt nicht selten nach wenigen Jahren in der libertären Szene der Rückzug ins Private.
Der Anarchismus scheint immer noch zu wenig Möglichkeiten zu bieten, mit und in dieser Bewegung alt zu werden.

Warum dieses Buch?

"Das Leben lehrt die Menschen mehr als alle Theorien und Bücher es je vermögen. Die, die meinen, das was sie sich häppchenweise aus Büchern angeeignet haben, einfach in die Praxis übernehmen zu können, machen sich selbst etwas vor; die, die solche Bücher aber mit den Erfahrungen des Lebens bereichern, können ein Meisterwerk schaffen", so der spanische Sozialrevolutionär Nosotros im März 1937.

Der Anarchismus ist nichts Vergangenes. Es gibt viele Menschen, die ihre anarchistischen Ideale und Utopien nicht vergessen und sich kontinuierlich um die anarchistische Sache verdient machen. Sie stehen nicht im Rampenlicht der Massenmedien. Was sie denken, sagen oder tun, findet kaum Gehör.
Ein Ziel dieses Buches ist es, einige dieser "unbekannten" Anarchistinnen und Anarchisten dem Vergessen zu entreißen. Denn das, was sie umtreibt, kann Inspiration und Ermutigung sein für alle, die sich hier und heute für die Idee der Anarchie begeistern. Ihre guten wie schlechten Erfahrungen sind zu wichtig, um in Archiven zu verstauben. Frei nach Gustav Landauer ist Anarchie nicht nur eine Sache der Forderungen, sondern des Lebens.
Die Interviewten bekommen die Gelegenheit, ihre Geschichten, Ideen und Träume von einem Leben ohne Chefs und Staat zu erzählen. Durch diese "oral history" sollen Erfahrungen weitergegeben werden, um daraus lernen zu können.
Wovon träumen heutige Anarchistinnen und Anarchisten?
Was tun sie, damit ihre Träume Wirklichkeit werden?
Was bedeutet für sie Anarchie?
Wie haben sie sich politisiert?
Welche Perspektiven sehen sie im 21. Jahrhundert?
Das sind Fragen, auf die sich in diesem Buch einige Antworten finden lassen.
Die Texte sind zum großen Teil Interviews, die für die Graswurzelrevolution (GWR), eine seit 1972 erscheinende "Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft", geführt wurden.
Zustande gekommen sind sie auf unterschiedliche Weise. Einige Interviews wurden schriftlich über E-Mail geführt, bei anderen handelt es sich um mitgeschnittene Gespräche, die anschließend transkribiert wurden. Für das Buch wurden die Manuskripte in Absprache mit den Interviewten überarbeitet, aktualisiert und zum Teil um weitere Fragen, Antworten und Anmerkungen ergänzt.
"ja! Anarchismus" ist in sechs Kapitel gegliedert.

Im Kapitel "Anarchismus und Kultur" kommen der Filmemacher Peter Lilienthal, der Songwriter, Gitarrist und Sänger der Folkrockband Cochise, Pit Budde, "Deutschlands bekanntester Straßenmusiker" Klaus der Geiger, sowie die Lyriker Michael Halfbrodt und Ralf Burnicki von der Edition Blackbox zu Wort. Etwas aus dem Rahmen fällt das Gespräch mit dem Kabarettensemble Der Blarze Schwock: Katrin Huxel, Daniel Korth, Torsten "Bewi" Bewernitz und Martin "Baxi" Baxmeyer.

Der Gegenwartsanarchismus spiegelt sich vor allem in seinen Publikationen. Im Kapitel "Anarchistische Medien und Verlage" berichten Hanna Mittelstädt, Lutz Schulenburg (beide Edition Nautilus / Die Aktion), Wolfgang Haug (Ex-Schwarzer Faden / Trotzdem Verlag), Bernd und Karin Kramer (Ex-linkeck / Karin Kramer Verlag) unter anderem über ihre Erfahrungen als Verlegerinnen und Verleger, Zeitungsmacherinnen und Zeitungsmacher.

Das dritte Kapitel erzählt Geschichte(n) aus Gegenwart und Vergangenheit speziell des gewaltfreien Anarchismus und der Graswurzelrevolution.

Wer soviel erlebt hat wie Helga Weber und Wolfgang Zucht, kann das nicht in wenigen Sätzen wiedergeben. Den Interviews mit den beiden wird darum viel Raum gegeben, zumal sie nie an Spannung verlieren.
Das Interview mit Wolfgang Hertle (Archiv Aktiv) knüpft direkt daran an. Er hat 1972 die überregionale Zeitung Graswurzelrevolution gegründet, angeregt unter anderem durch die von Wolfgang Zucht 1965 in Hannover mit herausgegebene Direkte Aktion - Blätter für Gewaltfreiheit und Anarchismus.
Das darauf folgende Gespräch irritiert durch einen Rollenwechsel. Der Interviewer und Herausgeber dieses Bandes wird zum Befragten. Die Fragen zur Entwicklung der GWR stellt Lea Hagedorn, eine Aktivistin der anarchosyndikalistischen Freien ArbeiterInnen Union (FAU). Anlass des Gesprächs war das Erscheinen der Nummer 300 im Juni 2005: "300 Ausgaben gelebte Utopie".
Auf Osman Murat Ülke wird bereits im Interview mit Peter Lilienthal Bezug genommen. Nun kommt der türkische Graswurzelrevolutionär, der wegen seiner Kriegsdienstverweigerung insgesamt 701 Tage in türkischen Gefängnissen verbringen musste, selbst zu Wort. Er erzählt seine eigene und die Geschichte antimilitaristischer, gewaltfreilibertärer, schwul-lesbischer, feministischer und anderer sozialer Bewegungen in der Türkei.

Anarchafeminismus und soziale Revolution sind ein Schwerpunkt des vierten Kapitels.

Marianne Enckell vom internationalen Zentrum zur Erforschung des Anarchismus Centre International de Recherches sur l´Anarchisme (CIRA, Lausanne) ist seit mehr als 40 Jahren nicht nur im französischen Sprachraum als feministische Anarchistin, Autorin, Übersetzerin und Bibliothekarin aktiv. Sie beschreibt, wie sie "in die anarchistische Grube gefallen" ist und welche Perspektiven sie sieht.
Als Autorin anarchistischer Bücher ist auch Mona Grosche von der Bonner Ortsgruppe der FAU bekannt. Ihre Veröffentlichung über "Anarchismus und Revolution" war Anlass dieses Gesprächs.
Ilse Schwipper saß wegen Mitgliedschaft in der Stadtguerillagruppe Bewegung 2. Juni lange Zeit unter Isolationshaftbedingungen im Gefängnis. Wie Marianne Enckell und Mona Grosche versteht sie sich als Anarchafeministin. Ilse Schwippers Positionen zur Politik von RAF und Bewegung 2. Juni werden in der libertären Szene kontrovers diskutiert und bilden einen Kontrast zu denen gewaltfreier Anarchistinnen und Anarchisten.

Im Mittelpunkt des fünften Kapitels stehen gelebte Utopien.

Der Schriftsteller Horst Stowasser hat mit "Leben ohne Chef und Staat", "Freiheit pur" und "Das Projekt A" moderne anarchistische Standardwerke geschaffen. Gemeinsam mit anderen versucht er, den Traum von einer herrschaftslosen Gesellschaft in einem konkreten "Projekt A / Plan B" zu realisieren.
Uwe Kurzbein zeigt, dass aus Kommunen keine Sekten werden müssen. Er lebt seit 1980 in Kommunen und reflektiert im Rahmen eines Küchentischgesprächs in der Kommune Olgashof seine Erfahrungen.
Eigentlich war auch ein Interview mit Marie Christine-Mikhailo eingeplant. Die Mutter von Marianne Enckell starb jedoch 88-jährig am 8. November 2004. Mit einem Nachruf auf sie und ihrem Artikel über das Altwerden in der anarchistischen Bewegung endet das Kapitel.

Wer durch die Lektüre neugierig geworden ist, kann die Literaturliste im Anhang des Buches als Basis nehmen, um sich intensiver (nicht nur) mit libertären Themen zu beschäftigen.

Eine Interviewsammlung wie die vorliegende kann nur in Ansätzen beleuchten, wie lebendig und vielfältig die anarchistische Bewegung am Anfang des 21. Jahrhunderts ist. Dieses Buch soll deshalb in gewissem Sinne als "Appetithappen" dienen. Es soll ungewöhnliche Menschen, libertäre Geschichte, Gegenwart und Zukunft näher bringen.
Ich wünsche eine anregende Lektüre und beende dieses Vorwort mit einem Zitat von Gustav Landauer (1870-1919):
"Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen den Menschen, ist eine Art, wie die Menschen sich zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält."

Bernd Drücke, April 2006




 

"Otkökü" – Graswurzelbewegung in der Türkei
Ein Interview mit dem Totalen Kriegsdienstverweigerer Osman Murat Ülke (Izmir)


Osman (Ossi) Murat Ülke wurde 1970 bei Gummersbach geboren und lebte in Deutschland, bis er im Alter von 15 Jahren auf Druck seiner Eltern unfreiwillig in die Türkei übersiedelte.
Nach einer Pressekonferenz im Mai 1994, bei der er eine Unterstützungserklärung für vier neue Kriegsdienstverweigerer abgegeben hatte, wurde er erstmals verhaftet. Nachdem er am 1. September 1995 seinen Wehrpass verbrannt und seine Kriegsdienstverweigerung (KDV) öffentlich gemacht hatte, wurde er im Oktober 1996 erneut verhaftet und verbrachte seither mit Unterbrechungen bis zum 9. März 1999 insgesamt 701 Tage im Gefängnis. Ossi versteht sich als gewaltfreier Anarchist. Er ist Gründungsmitglied des ISKD (Izmir Savas Karsitlari; Verein der KriegsgegnerInnen Izmir; im Jahr 2001 aufgelöst). Von 2001 bis 2004 war er Koordinationsredakteur der türkisch- und deutschsprachigen Otkökü (türkisch: "Graswurzel"), die achtmal – separat und als Beilage der GWR – erschien.


GWR: Über Deine Kriegsdienstverweigerung wurde viel in der GWR und in anderen linken Zeitungen berichtet. Trotz der vergleichsweise großen Medienöffentlichkeit musstest Du mehr als zwei Jahre in Haft verbringen. Da Du Dich nach wie vor weigerst, den Kriegsdienst anzutreten, kannst Du jederzeit wieder verhaftet werden. Wie ist Deine Situation heute?

Osman Murat Ülke: Rechtlich gesehen hätte ich ab dem zweiten Tag nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis inhaftiert werden müssen, da ich mich nicht in die Einheit begab und somit als Deserteur gelte. Hinzu kommt, dass das Militärkassationsgericht im letzten Herbst meinen letzten Prozess endgültig entschieden hat und ich daher dem Staat noch ca. eine Woche Haftstrafe schuldig bin. Sowohl die Militärs als auch die Polizei müssten mich also inhaftieren. Ich konnte durch zwei Jahre Widerstand im Gefängnis nicht erreichen, dass das Thema für mich persönlich zu einem Ende kommt, und der Staat konnte meinen Willen nicht brechen. (1) 
Eine erneute Inhaftierung ist immer möglich, aber die Armee bevorzugt den momentanen Zustand der De-facto-Illegalisierung "draußen", da sie dadurch unliebsame Diskussionen im In- und Ausland vermeiden kann. Nun hat natürlich Mehmet Tarhans Fall (siehe unten) das Thema wieder aktuell gemacht, doch auch unter diesen Umständen würde ein weiterer KDVer im Gefängnis nur den Druck steigern.
Meine Illegalisierung belastet mich natürlich. Ich habe keinen Zugang zu einem gültigen Pass, Sozialversicherung, fester Arbeit, Bankverbindung und so weiter. Psychisch ist es eine Bürde, weil immer eine bestimmte Ungewissheit besteht und ich viele alltägliche Selbstverständlichkeiten vermeiden muss oder weniger selbstverständlich durchlebe. Offenkundig sind die materiellen Begrenzungen. Die Übersetzungsjobs sind zu spärlich, um mich über Wasser zu halten. Neue Perspektiven zu entwickeln, fällt mir bei diesen konstanten Einschränkungen schwer. Das gleiche gilt für meine politische Betätigung.
Ich habe inzwischen einen Sohn. Dank meines internationalen Freundeskreises aus der politischen Arbeit der letzten fünfzehn Jahre war es möglich, eine Wohnung über Kredite zu kaufen, wodurch zumindest meine Freundin und mein Sohn bei einer weiteren Inhaftierung einen gesicherten Platz haben.

GWR: Dein Fall wird zurzeit vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt. Wie schätzt Du diesen Prozess ein?

Osman Murat Ülke: Wir haben unsere Klage 1999 eingereicht und sie dann 2001 erneuert. Das Gericht hat entschieden, alle unsere vorgetragenen Anklagepunkte zu verhandeln, was ein gutes Zeichen ist.
Inzwischen hat der türkische Staat seine Verteidigung abgeschlossen, und wir haben unseren letzten Kommentar eingereicht. Mein Anwalt hofft auf ein Urteil innerhalb der ersten Hälfte des Jahres 2006.
Eine Einschätzung unserer Erfolgschancen ist schwierig. Soviel ich weiß, handelt es sich um einen Präzedenzfall. Es gab zwar schon Kriegsdienstverweigerer, die vor dem EGMR geklagt haben, aber in den jeweiligen Ländern gab es Regelungen zu KDV und Zivildienst.
So hat das Gericht in einem Fall gegen einen finnischen Totalverweigerer entschieden. Daraus ergibt sich keine klare Richtlinie für einen Fall aus der Türkei. Ob das Gericht sich an Empfehlungen und Standards der EU-Institutionen anlehnen wird oder die Souveränität der türkischen Regierung in dieser Sache anerkennt, wird sich zeigen.
Doch beinhaltet meine Klage einige Grundforderungen, sekundär zur Forderung der Anerkennung der KDV. Die Türkei muss der absurden Praxis, Kriegsdienstverweigerer nicht als solche zu sehen und zu bestrafen, sondern als Wiederholungstäter zu behandeln, die jeden einzelnen Befehl ablehnen, ein Ende setzen.
Indem die Türkei einer rechtlichen Definition der KDV ausweicht, und sei diese Definition negativ, begeht sie einen Verstoß gegen ein simples und elementares Rechtsprinzip, demnach jede Straftat nur einmal bestraft werden kann.
Sollte das Gericht nur zu letzterem Punkt zu unseren Gunsten entscheiden, was eigentlich der Fall sein müsste, wäre schon viel erreicht. Dadurch müsste die Türkei zumindest ihre Gesetze anpassen, und es wäre für potentielle KDVer ein kalkulierbares Risiko, zu verweigern. Nach einer bestimmten Haftstrafe wären keine weiteren Konsequenzen, wie zum Beispiel erneuter Zwang zum Militärdienst, zu erwarten.
Damit dürften die Ausgangsbedingungen für eine breit gefächerte und zahlenstarke KDV-Bewegung endlich geschaffen sein.

GWR: Solltest Du vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewinnen, wäre das ein großer Schritt auf dem Weg zur Anerkennung des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung in der Türkei. Meinst Du, die Türkei könnte sich durch internationalen Druck dazu bewegen lassen, Kriegdienstverweigerer anzuerkennen? Welche Folgen könnte das haben?

Osman Murat Ülke: Ein deutliches Urteil, das sich nicht nur auf unsere sekundäre Forderung beschränkt, würde die Türkei natürlich stark in Bedrängnis bringen, da die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bindend sind. Doch eine direkte Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung kann ich mir nicht vorstellen. Hierzu bedürfte es wohl einer wirklich starken, gesellschaftlich anerkannten KDV-Bewegung und realpolitischer Engpässe in den Beziehungen zur EU.
Die KDV hat für internationale Akteure und die EU im Vergleich zu anderen Aspekten der Menschenrechtsproblematik keine Priorität. Falls es zur Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU kommen sollte, wird wohl KDV eine der letzten zu bereinigenden Unebenheiten sein.
Die Folgen einer solchen Anerkennung ... KDVer haben jetzt schon eine wichtige Rolle bei der Entmystifizierung nationalistischer und etatistischer Dogmen und werden sie noch verstärkt in der Zukunft spielen.

GWR: Der ISKD war eine der aktivsten antimilitaristischen Gruppen in der Türkei. Der Verein hat sich während Deiner Haft intensiv für Deine Freilassung engagiert. Wo lagen seine Arbeitsschwerpunkte?

Osman Murat Ülke: Der Verein hat seit seiner Gründung im Dezember 1992 immer versucht, den Militarismus als Ganzes zu thematisieren und zu bekämpfen. KDV war nur ein wichtiger Teilaspekt, der dadurch Gewicht erlangte, dass er direkt in unseren Lebensweg eingriff. Uns ging es darum, Ursachen von politischer und gesellschaftlicher Gewalt und Ungerechtigkeit zu verstehen und etwas dagegen zu halten. Daher arbeiteten wir auf mehreren Ebenen gleichzeitig. Über kulturelle Mittel versuchten wir, gesellschaftliche, aber auch linke Tabus aufzubrechen. Über Trainings wollten wir ein neues Verständnis von politischer Aktion, Effektivität und Demokratie erarbeiten und weitergeben. Der ISKD war weiter ein aktiver Teil der allgemeinen Menschenrechtsbewegung.
Der Verein hat sich mit unzähligen Aktivitäten, Aktionen und anderen Mitteln gegen den Krieg in Kurdistan, gegen türkisch-griechische Spannungen, gegen Aufrüstung, gegen totalitäre Bestrebungen, die Bevölkerung und die Opposition zu entmündigen, für Emanzipation, Minderheitenrechte, Geschichtsaufklärung und vieles anderes eingesetzt.

GWR: Der ISKD war der erste legale antimilitaristische Verein in der Türkei. Ein Novum in dem vom Militär dominierten Land. Warum wurde der Verein 2001 aufgelöst?

Osman Murat Ülke: Nach meiner Entlassung hat der ISKD eine konfrontative KDV-Politik gemieden, was nach der langen, aufreibenden Soli-Arbeit verständlich war. Stattdessen war ein neuer Schwerpunkt die Vernetzung im Inland, die mit antimilitaristischen Treffen in jeweils einer der drei großen Städte Ankara, Istanbul und Izmir begann und in den Aufruf an verschiedene Gruppen und Personen aus den Neuen Sozialen Bewegungen mündete, einen gemeinsamen Kongress zu organisieren.
Doch der kollektive Burnout war hartnäckiger als gedacht, und so kam es 2001 zur freiwilligen Aufgabe der antimilitaristischen Arbeit in Vereinsform.

GWR: Mehmet Tarhan wurde am 10. August 2005 vom Militärgericht in Sivas aufgrund seiner Kriegsdienstverweigerung zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt. Wie ist seine aktuelle Situation?

Osman Murat Ülke: Wie bekannt, war besonders seine erste Zeit im Militärgefängnis sehr schwierig. Seine Mitinsassen wurden von der Gefängnisleitung angestiftet, ihn zu prügeln. Er wurde verletzt und danach von denselben Inhaftierten erpresst und mit dem Tode bedroht. Auf Eingreifen seiner Anwältinnen wurden diese Bedrohungen zwar unterbunden, dafür setzte direkter Druck von der Gefängnisleitung ein.
Erst durch zwei ca. je einmonatige Hungerstreiks erreichte Mehmet eine relative Stabilität im Gefängnis. Doch das Tauziehen mit der Administration geht weiter. Sie versuchen immer noch, seine Rechte zu beschränken und ihm damit das Leben so schwer wie möglich zu machen.

GWR: Mehmet Tarhan steht öffentlich zu seiner Homosexualität und bezeichnet sich als gewaltfreier Anarchist. Meinst Du, das hatte Auswirkungen auf das maßlose Urteil?

Osman Murat Ülke: Ich kann nicht ganz sicher sagen, dass das Urteil durch seine Homosexualität höher ausgefallen ist. Es kann auch sein, dass das Militärgericht einfach durch ein hohes Urteil die nächste öffentliche Konfrontation mit ihm und der Thematik aufschieben wollte. Aber es kann sehr gut sein, dass seine Homosexualität eine Rolle im Strafmaß gespielt hat, weil sich das Militär vielleicht dachte, dass er als Schwuler leichter zu marginalisieren ist und längerfristig weniger Solidarität mobilisieren und gesellschaftliche Akzeptanz erzeugen kann. Dieser oberflächlich stimmige Gedanke hat sich erst einmal nicht bewahrheitet. Ich würde sagen, dass Mehmet sich in einer "glücklichen" Schnittmenge befindet und seine verschiedenen Eigenschaften ihm sowohl in der Türkei als auch international ein breiteres Solidaritätsnetz beschert haben.

GWR: Kannst Du die Situation der Schwulen- und Lesbenszene in der Türkei beschreiben?

Osman Murat Ülke: Die Schwulen- und Lesbenszene in der Türkei hat zwei größere und sehr stabile Gruppen hervorgebracht, die KaosGL in Ankara und Lambda in Istanbul. Beide Gruppen treten wirksam an die Öffentlichkeit und ergründen für die Türkei neue Diskussionsstränge. Dank der durch diese Gruppen neu gesetzten Akzente ist die Entscheidung des Militärkassationsgerichtes, Mehmet Tarhans Homosexualität medizinisch festzustellen, in den Medien scharf kritisiert worden. Selbst der Militärstaatsanwalt des lokalen Militärgerichts hat sich in Anlehnung an Menschenrechtsprinzipien gegen diese Entscheidung ausgesprochen.

GWR: Im Moment gibt es eine internationale Solidaritätskampagne für Mehmet Tarhan. Am 9. Dezember 2005, am Vortag des Internationalen Tags der Menschenrechte, gab es in dreizehn Ländern beziehungsweise in über 20 Städten gleichzeitig Kundgebungen und Demonstrationen für seine Freilassung und für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung. (2)  Wie berichten türkische Medien darüber?

Osman Murat Ülke: Die Medienresonanz zu Mehmets Fall ist gut. Die Erklärung von amnesty international zu Mehmet am 9. Dezember 2005 wurde sogar im landesweiten Nachrichtensender NTV wiedergegeben. Es wäre sicher mehr möglich, wenn die lokale Solibewegung besser organisiert wäre.

GWR: Wie viele Menschen haben in den letzten Jahren in der Türkei öffentlich ihre Kriegsdienstverweigerung erklärt?
Wie hat die Öffentlichkeit und wie hat der Staat darauf reagiert?

Osman Murat Ülke: Insgesamt haben sich bis heute 60 KDVer erklärt. Davon sind 11 Frauen, die ihre KDV innerhalb von 2004 erklärt haben. Fünf der 49 Männer, die ihre KDV erklärt haben, haben sich später entschieden, Militärdienst zu leisten.
Nach mir und vor Mehmet Tarhan gab es zwei weitere KDVer, die Gefängniserfahrungen gemacht haben.
Mehmet Bal erklärte im Oktober 2002 seine KDV. Da er zu dem Zeitpunkt sowieso Soldat war, konnte das Militär das Problem nicht umgehen. Das Militär zeigte sich unentschlossen im Umgang mit ihm. Er wurde zuerst im Gefängnis sehr hart behandelt und trat in einen Hungerstreik. Nach einer Gerichtsverhandlung wurde er entlassen, woraufhin er sich freiwillig bei seiner Einheit melden sollte.
Er wurde im Januar 2003 gezielt in einer Wohnung festgenommen und in eine psychiatrische Anstalt gebracht, um ausgemustert zu werden. Dort entschied man sich anders, und er bekam von seiner Einheit drei Monate Urlaub. Seitdem ist Mehmet Bal auf freiem Fuß.
Halil Savda wurde im November 2004 aus dem Gefängnis entlassen, in dem er sich wegen Mitgliedschaft in einer illegalen bewaffneten Organisation befand. Halil hatte sich in seiner Gefängniszeit neu orientiert und entschieden, KDVer zu werden. Er wurde bei seiner Entlassung direkt an "seine" Militäreinheit überstellt. Dort schickte man ihn wegen Befehlsverweigerung ins Militärgefängnis. Er wurde nach einem Monat Gefängnisaufenthalt mit der formellen Aufforderung, sich "seiner" Einheit zu stellen, entlassen.
Tarhans Fall stellt eine deutliche Eskalation dar. Hier haben verschiedene Faktoren zusammengespielt. Zuallererst war es Mehmet Tarhan, der bei seiner mehr oder weniger zufälligen Festnahme im April 2005 jegliche Kooperation mit der Polizei ablehnte. Er hätte die Konfrontation mit den Militärs verhindern können, wenn er unterschrieben hätte, dass er sich demnächst stellt. Damit wäre die Polizei die Verantwortung los und hätte sich auch nicht um den weiteren Verlauf gekümmert.
Später schaltete sich das Zentraldirektorat der Rekrutierungsämter ein und verhinderte eine Entlassung Mehmets, wie sie Halil Savda gewährt wurde. Damit geriet er in einen Kreislauf, wie ich damals in Eskiºehir. Zuletzt wurde das Ganze mit der bisher höchsten Einzelstrafe besiegelt, zu der ein Kriegsdienstverweigerer verurteilt wurde.
Meines Erachtens sucht das Militär krampfhaft nach Wegen, die KDV aus der öffentlichen Diskussion zu verbannen. Dabei experimentiert es mit Druck und aufgesetzter Nachlässigkeit.
Diese Strategie ist im Großen und Ganzen bisher nicht aufgegangen. Es besteht ein reges Interesse an KDV in der Öffentlichkeit. Ich sehe "neidische" und hasserfüllte Bemerkungen in den verschiedensten Internetforen, von Leuten, die meinen, die Drückeberger machen es sich einfach. In den gleichen Foren finden sich aber auch kleinlautere Stimmen, die die Heiligkeit von Staat und Heer in Frage stellen und Sympathie für KDVer bekunden. Auch wenn negative Kommentare deutlich überwiegen, zeigt dies, dass KDV – hauptsächlich von der Jugend – wahrgenommen und diskutiert wird.

GWR: Die Repressionen des türkischen Staates richten sich gegen Antimilitaristinnen und Antimilitaristen und in der Vergangenheit auch gegen Journalistinnen und Journalisten, die sich trauten, ohne Maulkorb über antimilitaristische Aktionen zu berichten.
Wie erklärst Du Dir, dass die türkische Presse nun relativ viel über die Kriegsdienstverweigerer berichtet hat?

Osman Murat Ülke: Es ist zwar immer noch schwierig, eine nahtlose und objektive Berichterstattung in der Presse zu gewährleisten, aber seit es nicht mehr illegal ist, KDV einzufordern – ganz anders, als selbst KDVer zu sein –, wird die KDV-Diskussion als halbwegs legitim angesehen. Doch der Gummiparagraph der "Distanzierung des Volkes vom Militär" besteht weiter, nur unter einem anderen Artikel. So steht zur Zeit die Journalistin Birgül Özbaris von der pro-kurdischen Ülkede Özgür Gündem (Freie Tagesordnung im Land) wegen drei Artikeln zu antimilitaristischen Aktivitäten vor Gericht. Ihr droht eine Maximalstrafe von neun Jahren.
Im Gesamtbild ungewichtige Aussagen von EU-Politikerinnen, Politikern und Institutionen zur KDV-Problematik in der Türkei wurden hier mit großem Interesse wiedergegeben. Eine Deckung durch die EU nimmt dem Großteil der Journalistinnen und Journalisten ihre psychischen Hemmungen, was etatistische Tabus angeht. Plötzlich scheinen sich bestimmte Schleier in der Luft aufzulösen.
Ich denke, dass KDV für viele Journalistinnen und Journalisten einen Symbolwert hat, weil diese Praxis sich so ausdrücklich gegen herkömmliche Wertvorstellungen auflehnt. Deswegen ist es kein Wunder, dass selbst liberale Mainstream-Kolumnisten das Thema vorsichtig aufnehmen.

GWR: Anfang der siebziger Jahre hat die GWR eine erfolgreiche Kampagne für die inhaftierten Kriegsdienstverweigerer im faschistischen Spanien mitorganisiert. Die Situation in der heutigen Türkei ähnelt in vielen Bereichen der Spaniens unter der Franco-Diktatur. Nach Francos Tod wollte der spanische Staat Mitglied der EG werden und musste deshalb demokratische und ökonomische Reformen umsetzen. Die Türkei ist heute immer noch de facto eine Militärdemokratur, eine Militärdiktatur mit demokratischem Anstrich. Sie will Mitglied der EU werden und muss dafür – ähnlich wie einst Spanien – bestimmte Aufnahmekriterien erfüllen. Dazu gehören die Anerkennung der Menschenrechte, die Abschaffung der Todesstrafe und der Folter. Das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung muss weltweit durchgesetzt und anerkannt werden. Hier ergeben sich auch Möglichkeiten für eine internationale Solidaritätskampagne für die türkischen Kriegsdienstverweigerer. Wie siehst Du die Chancen einer solchen Kampagne?
Wie kann der internationale Druck auf die Türkei verstärkt werden?

Osman Murat Ülke: Wie oben schon gesagt, sehe ich mittelfristig keine Chancen für die Anerkennung der KDV. Aber seit die Mitgliedsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen wurden, spielt natürlich internationaler Druck eine ganz andere Rolle als früher. Er löst viel schneller Diskussionen in den Medien aus, während ihm früher oft nur mit Verschwörungstheorien begegnet wurde.
Momentan liegt das Problem mit der Solidarisierung viel weniger im Ausland als im Inland. Der Kern der hiesigen Solibewegung ist in Istanbul. Doch die lose Gruppe ist unstrukturiert und perspektivlos, was natürlich einen schnellen Burnout mit sich bringt. Viele potentielle Ansätze und Möglichkeiten bleiben ungenutzt.
Meiner Meinung nach müsste eine Rückbesinnung auf pragmatische Anknüpfungspunkte mit Dritten anstehen. Stattdessen diskutieren Antimilitaristen haarfeine Definitionsfragen, die an der aktuellen Problematik vorbeigehen und noch dazu vergangene Erkenntnisse erst gar nicht wahrnehmen.

GWR: Wer sich heute in der Türkei bewegt, dem fallen überall die Bilder und Heldenstatuen des Staatsgründers Mustafa Kemal "Atatürk" (Vater der Türken) ins Auge. Atatürk war mitverantwortlich für die Ermordung hunderttausender Kurdinnen und Kurden. Seine türkistische Minderheitenpolitik unter dem Motto "Stolz ist, wer sich Türke nennen darf" machte aus ihnen "Bergtürken" und wird bis heute fortgesetzt. Auch ist es nach wie vor verboten, den 1915 begangenen osmanischen Völkermord an 1,5 Millionen Armenierinnen und Armeniern und die Verbrechen des türkischen Staates und seines Gründervaters zu thematisieren. Das zeigt zum Beispiel auch der im Dezember 2005 angefangene Prozess gegen den Schriftsteller Orhan Pamuk.
Wie schätzt Du die Möglichkeiten ein, dass sich die türkische Gesellschaft stärker als bisher mit ihrer Geschichte auseinandersetzen kann?

Osman Murat Ülke: Der Kult um "Atatürk" ist seit Anfang der neunziger Jahre immer stärker geworden und wird von einem unglaublich trivialen Pop-Nationalismus begleitet. Für die Mehrheit ist Nationalismus nichts Griesgrämiges mehr, sondern ein moderner und heiterer Zustand von Selbstbewusstsein. Eine Infragestellung sorgsam gehegter Dogmen löst jedoch sofort eine ansteckende Hysterie aus.
Dagegen haben sich aber in linksintellektuellen Kreisen und an manchen Universitäten kritische Herangehensweisen an die offizielle Geschichtsschreibung etabliert.
Nationalistische Randgruppen und der militärisch-bürokratische Komplex haben aufs schärfste auf Versuche der geschichtlichen Aufarbeitung reagiert, wodurch natürlich die gesamtgesellschaftliche Diskussion erst recht ins Laufen gekommen ist.
Die Konferenz zu "Armeniern im Osmanischen Reich", die von drei Universitäten getragen wurde, sorgte über das ganze Jahr 2005 für innen- und außenpolitische Krisen.
Die Faschisten setzen alles daran, diese Ansätze zu terrorisieren, und polarisieren damit das innenpolitische Klima, aber im Großen und Ganzen hat eine Öffnung stattgefunden, die ihre Früchte tragen wird.

GWR: Du verstehst Dich als gewaltfreier Anarchist. Kannst Du beschreiben, wie dieses Selbstverständnis entstanden und gewachsen ist?

Osman Murat Ülke: Vorweg muss ich sagen, dass mein Selbstverständnis seit der Aufgabe des ISKD durch den ungewollten, aber scheinbar unabwendbaren Verlust einiger Kollektive geknickt ist. Seitdem habe ich es nicht geschafft, mich in einer neuen politischen Heimat anzusiedeln. Die Illegalisierung und Distanz von der alltäglichen politischen Arbeit haben auch meine Lebensweise und Prioritäten beeinflusst.
Mein Selbstverständnis ist von einer Wurzellosigkeit geprägt. Ich bin in Deutschland aufgewachsen und habe früh ökonomische Ungleichheit und Rassismus erlebt. Die türkische Kultur war alles andere als eine Antwort. Als Kind wurde ich in den frühen Achtzigern Zeuge der Öko- und der antimilitaristischen Bewegung, mit denen ich mich durch eigene Gewalterlebnisse und eine Abscheu vor Ungerechtigkeit schnell identifizieren konnte.
Mit fünfzehn kam dann der Schock der Zwangs"rückkehr" in die Türkei. Ich fand mich plötzlich in einem islamisch-faschistoiden Internat wieder. In mir, dem damals schon entschiedenen Atheisten, haben das Internat und die dortigen Praktiken viel zerstört.
Damit wurde immer klarer, dass ich in diesem Land nur im Widerstand überleben kann und Basispolitik zu meinem Lebensweg werden würde. Wie es aber jetzt, Mitte dreißig, weitergehen soll, versuche ich schon seit geraumer Zeit herauszufinden.

GWR: Was verstehst Du unter Anarchie und unter gewaltfreiem Anarchismus?

Osman Murat Ülke: Anarchie ist für mich ganz und gar keine Extremvorstellung.
Extrem finde ich die heutige Gesellschaftsstruktur. Die zwei Begriffe "Ordnung" und "Anarchie" vertragen sich meiner Meinung nach wunderbar, weil Anarchie für mich vordergründig ein Ordnungsideal ist, das den Menschen ermöglichen soll, sich selbst zu verwirklichen. Das heißt, eigene Potentiale zu entdecken und im "Schoß" einer solidarischen Gesellschaft zu entfalten. Damit denke ich gar nicht an konfliktfreie Utopien, in denen alle nett und glücklich sind, sondern einfach daran, dass sich der in der Gesellschaft dominierende Konsens wandelt, dass anstelle von Profit- und Konkurrenzideologie die unterstützenswerte Selbstverwirklichung tritt.
Anarchismus war für mich immer gewaltfrei, weil Gewalt Herrschaftsstrukturen nur reproduziert und vernebelt.

GWR: Der Istanbuler KAOS-Verlag hat anarchistische Bücher zum Beispiel von Emma Goldman, Rudolf Rocker, Errico Malatesta und Abel Paz herausgebracht. "Anarsizm" von George Woodcock liegt mittlerweile in mehreren Auflagen vor. Anarchistische Zeitungen wie zum Beispiel die unregelmäßig erschienene Ates Hirsizi, (3)  aber auch die vielen gesprühten A’s, etwa in Izmir und Istanbul, deuten auf eine vitale libertäre Szene hin.
Kannst Du die Entwicklung und die aktuelle Situation der Anarchistinnen und Anarchisten in der Türkei beschreiben? Auch in Bezug auf die Zusammenarbeit und Vernetzung der libertären Gruppen?

Osman Murat Ülke: Der KAOS-Verlag leistet weiterhin gute Arbeit. Die Zusammenarbeit verschiedener Gruppen ist allerdings im letzten Jahr nicht vorangekommen. Im Gegenteil schreitet die Entfremdung zwischen verschiedenen Zirkeln voran.
Vor einigen Jahren gab es einen Bruch zwischen der AGF (Anarchistische Jugendföderation) und allen anderen Gruppierungen, weil die AGF nicht davor zurückschreckte, einen Mordversuch auf einen langjährigen Anarchisten und Antimilitaristen auszuüben. Sie stürmten eine Versammlung und verletzten unseren Freund mit Schlagstöcken und Metzgermessern. Er kam nur mit schweren Verletzungen davon und hätte sehr wohl sterben können. Zum Glück wurde diese Gruppe von Chaoten, welche von Ex-Stalinisten angeführt werden, erfolgreich boykottiert. Aber die Diskussionen haben ein ganzes Jahr gedauert und sehr viel Kraft gekostet.
So viel ich weiß, besteht diese Gruppe immer noch, aber sie tritt öffentlich kaum noch auf, und es bestehen zwischen den zwei Szenen keine Kontakte. Ansonsten muss ich leider sagen, dass die Anarchisten in der Türkei sich auf der Stelle bewegen. Sämtliche Publikationen sind eingegangen. Es gibt natürlich hin und wieder Fanzines, doch diese hinterlassen keine tiefer gehenden Spuren. KDV und Antimilitarismus ist der einzige konkrete Themenbereich, in dem Anarchisten mitmischen, und gerade hier stellen sie sich meist puristisch und defensiv auf. Eine Überbetonung der TKDV in einem Land, in dem es noch gar keinen Zivildienst oder gar Zivildienstverfechter gibt, ist ein klares Anzeichen von Sektierertum um der Lauterkeit willen. Diese verbal radikale Linie schadet mehr, als sie gut tut.

GWR: In der Vergangenheit gab es einige anarchistische Zeitungsprojekte, die aber mittlerweile eingestellt wurden. Kannst Du die Geschichte der libertären Presse in der Türkei skizzieren? Amargi, die gewaltfreie, anarchistische Zeitung, erscheint nicht mehr. Warum nicht?

Osman Murat Ülke: Wenn ich mich nicht irre, erschien die Zeitschrift Akintiya Karsi (Gegen den Strom) 1984. Das war eine Zeit, in der sich die sozialen Bewegungen nach dem Putsch noch kaum gesammelt hatten. Das eigentliche Erwachen fand erst 1987 statt. Daher ist Akintiya Karsi für mich ein wichtiges Phänomen. Sie war nicht ausdrücklich anarchistisch, aber sicher libertär. Es erschienen zwei Ausgaben.
1987 bis 88 erschien dann Kara (Schwarz) mit zwölf Ausgaben. In dieser Zeitschrift wurden verschiedene Strömungen vorgestellt und diskutiert. Kara ist mit ihrer Fülle, dem Stil und der Anziehungskraft, die sie entwickelte, immer noch nicht überboten worden.
Aus Kara entstanden zwei Projekte: Efendisiz (Der/die Herrenlose – nicht zu verwechseln mit Efendisizler) und Atölye A. Efendisiz wollte die durch Kara geschaffene Grundlage politisch umsetzen, während Atölye A ein Kommuneprojekt war, in dem versucht wurde, durch Handarbeit eine finanzielle Grundlage für ein alternatives Leben und alternative Politik zu schaffen. Beide Projekte fingen 1989 an. Efendisiz veröffentlichte sechs Ausgaben. Atölye A war etwas beständiger, brach aber 1991 auseinander.
In jener Zeit waren diese kleinen Gruppen aktiv in der Ökologie-Szene und fingen an, Antimilitarismus zu thematisieren.
So kam es Ende 1990 zu den ersten beiden Kriegsdienstverweigerern, die von einer wöchentlichen, populär-libertären Zeitschrift namens Sokak (Straße) unterstützt wurden. Sokak erreichte eine Auflage von 10.000, musste aber, nachdem sie dreimal konfisziert wurde, schließen.
Amargi – das erste Wort für Freiheit beziehungsweise Rückkehr zur Mutter in Sumerisch – erschien zum ersten Mal im Dezember 1991. Diese Zeitschrift wurde von früheren Aktivistinnen und Aktivisten aus Efendisiz und Atölye A getragen. Neben anderen Themen betonte Amargi insbesondere den Antimilitarismus, plädierte allerdings gegen eine Konkurrenz zwischen verschiedenen Strömungen innerhalb des Anarchismus. Amargi stellte ihr Erscheinen ein, nachdem 1994 ein Projektvorschlag für eine gemeinsame Zeitschrift aller Anarchistinnen und Anarchisten der Türkei scheiterte. Weiter spielte das Engagement der Amargi-Herausgeberinnen und -Herausgeber innerhalb des ISKD eine Rolle bei der Aufgabe der Zeitschrift. Amargi erreichte vierzehn Ausgaben.
1992 und 1993 war die Zeit, in der Underground-Fanzines wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Eines der Fanzines war Coelacanth (der Urfisch). Es entstand im Januar 1992 in Verbindung mit einer Kommune in Antalya. Nach vierzehn Ausgaben stellte Coelacanth sein Erscheinen ein, da die Kommune auseinander fiel. Einige frühere Coelacanthler arbeiteten dann bei Amargi und dem ISKD weiter. Ates Hirsizi (Feuerdieb) erschien 1993, vertrat eine anti-militaristische Haltung und legte besonderen Wert auf eine Auseinandersetzung mit dem Krieg in Kurdistan. Aus ihr entstand der KAOS-Verlag.
Nachdem Amargis Vorschlag, die Kräfte zu bündeln, erfolglos blieb, erschien 1994 Apolitika, mit dem Anspruch, eine Plattform aller Anarchistinnen und Anarchisten in der Türkei zu sein, dem sie aber nicht nachkommen konnte. Nachdem Amargi, Coelacanth, Ates Hirsizi und Apolitika nicht mehr erschienen, war es länger still, bis 1999 Efendisizler entstand, die in Kürze zum Sprachrohr der AGF wurde und inzwischen nicht mehr besteht.
Im März 2001 schlossen sich Anarchisten aus früheren Projekten, aber auch neue junge Leute zusammen und gründeten die Kara mecmuA (Schwarze Zeitschrift). mecmuA erschien recht unregelmäßig, kam aber allgemein mit ihrem professionellen Layout und oft gut geschriebenen Artikeln gut an. Es erschienen insgesamt zehn Ausgaben, bis sich das Projekt im Februar 2004 endgültig verlief.
Während zu Anfang Zeitschriften, die den Anarchismus generell vorstellen und allgemein Systemkritik üben, ausreichend waren und eine wichtige Lücke füllten (besonders Kara), leiden neuere Erscheinungen am Fehlen konkreter lokaler Inhalte (zuletzt mecmuA). Ein größeres Projekt ist für die nächste Zukunft unwahrscheinlich, weil einfach die Voraussetzungen nicht stimmen.

GWR: Du warst von 2001 bis 2004 Redakteur der türkisch-deutschen Otkökü. (4)  Kannst Du die Geschichte und die Inhalte dieser gewaltfreianarchistischen Zeitung skizzieren?

Osman Murat Ülke: Die ursprünglichen Zielsetzungen der Otkökü waren sehr ambitioniert und schwer unter einem Dach zu vereinen. Zum einen sollten "Deutsch-Türken" und mit ihnen Deutsche angesprochen werden, zum anderen sollte eine Brücke zu einer Leserschaft in der Türkei hergestellt werden. Das sind schon mal drei verschiedene Zielgruppen. Ich denke, dass potentielle Sympathisantinnen und Sympathisanten für gewaltfreien Anarchismus oder Neue Soziale Bewegungen (NSB) unter Deutsch-Türken eine sehr kleine Gruppe darstellen dürften.
Sowohl Inhalte als auch Präsentation müssten im Grunde für alle drei Gruppen verschieden ausfallen, weil bestimmte Diskussionen sich der einen Gruppe nicht so stellen wie der anderen. Dies empfand ich konzeptionell als das größte Handicap der GWR-Beilage.
Die dritte Zielgruppe, nämlich Leserinnen und Leser in der Türkei, entfiel von selber, als gleich die erste Ausgabe vom türkischen Zoll beschlagnahmt und an das Innenministerium weitergeleitet wurde. Meine eigene Situation als Illegalisierter verhinderte eine aktive Konfrontation.
Trotz allem erschien die Otkökü in einem dreimonatigen Rhythmus für insgesamt acht Ausgaben.
Da die Otkökü eigenständig keine Einnahmen machte, wurde sie der GWR zur finanziellen Bürde. Unter diesen Bedingungen konnte ihr natürlich nur begrenzt Platz eingeräumt werden, der noch dazu in zwei Sprachen aufgeteilt wurde. Damit kamen tiefer gehende Artikel und ganze thematische Blocks gar nicht erst in Frage.
So gelang es auch nicht, das Projekt in Team-Arbeit zu gestalten. Leider habe ich die Otkökü schließlich ohne großes Feedback von Leserinnen und Lesern nach eigenem Gutdünken zusammengestellt und konnte dabei Sinn und Unsinn meines Tuns kaum einschätzen.
Das alles klingt jetzt sehr negativ, aber es musste wohl versucht werden, um die Erfahrung machen zu können. Ich weiß nicht, als wie nützlich sich diese Erfahrung herausstellen wird, doch sie birgt gute Fragen für eventuelle Zukunftsprojekte. Auf jeden Fall muss ich aber dazu sagen, dass Du, Bernd, in jeder Phase des Projekts sehr unterstützend warst.
Inhaltlich handelte die Beilage meist von basisdemokratischen Ansätzen und Aktivitäten in der Türkei, wenig thematisierten Menschenrechtsverletzungen, in die die türkische Armee verwickelt war, und Kriegsdienstverweigerung.
Daneben gab es kritische Artikel zu aktuellen Themen wie zum Beispiel Geschichtsaufarbeitung oder die vorgesehene Rolle der Türkei im Irakkrieg.

GWR: In der Otkökü wurde zum Beispiel auch über die Schwulen- und Lesbenszene in der Türkei berichtet. Wie haben sich die Gay-/Lesbenszene, die feministischen Gruppen und allgemein die sozialen Bewegungen in der Türkei in den letzten Jahren entwickelt?

Osman Murat Ülke: Nach einer Talfahrt durch die Neunziger und um die Jahrtausendwende geht es mit den NSB anscheinend wieder aufwärts.
Wie vorhin schon gesagt, hat sich die Lesben-/Schwulenbewegung weiterentwickelt und Freiräume erkämpft.
Aktivitäten von Frauengruppen haben deutlich zugenommen.
In den Neunzigern gab es eine Akademisierung und kaum noch Basisbewegungen. Jetzt tut sich wieder viel an der Basis.
Sehr viel passiert in den kurdischen Provinzen, und die Vernetzung zwischen türkischen und kurdischen Frauen ist gut. Natürlich hat diese Konstellation ihre eigenen Probleme, aber auf jeden Fall sind diese dem Stillstand von vor zehn Jahren vorzuziehen.
Frauengruppen nehmen sich auch vieler sozialer Probleme an und finden damit direkt Zugang zur ärmeren und oft entpolitisierten Bevölkerung. Das führt zu holistischen Ansätzen, in denen konkrete wirtschaftliche Fragen ein Gewicht haben.
Nur die Ökobewegung findet nicht zu ihrer anfänglichen Stärke aus den Spätachtzigern zurück. Die Grünen warten einen geeigneten Moment zu einer Parteineugründung ab, aber ich kann keine breite Bewegung oder gesellschaftliche Dynamik dahinter sehen.
Interessanterweise ist es gerade Mehmet Tarhans Fall, zu dem alle diese NSB einen Bezug herstellen können. Zwar kommt es nicht zu einer wechselseitigen Durchdringung der NSB, aber es gibt immer wieder gemeinsame Aktionen.

GWR: Welche Perspektiven siehst Du für eine Graswurzelbewegung in der Türkei?

Osman Murat Ülke: Die Graswurzelbewegung, oder besser gesagt ihre Ansätze, ist mit den gleichen Problemen konfrontiert, mit denen jede radikale gesellschaftliche Opposition in der Türkei sich herumschlagen muss.
Vielleicht ist für diese Bewegung die Hürde sogar größer, weil sie zusätzlich dem Misstrauen der traditionellen Linken ausgesetzt ist.
Hinzu kommt ein ausdrücklicher bürgerlicher Hintergrund derer, die auf diese Ansätze reagieren und diese mitentwickeln. Die Ablehnung des Establishments mündet meist in radikale Subkulturen, was an und für sich natürlich überhaupt nicht negativ ist. Hierbei kommt aber die Anbindung an harte Realitäten dieses Landes meist abhanden, und die jungen Radikalen schaffen sich unbewusst ihre eigenen heilen Nischen, aus denen heraus sie auf gesellschaftlicher Ebene kaum noch eingreifen können. Am deutlichsten sehe ich eine fehlende Bezugnahme zu wirtschaftlichen Realitäten und Problemen. All das gilt natürlich ebenso für meine eigene politische Vergangenheit durch die ganzen Neunziger. Deswegen finde ich Ansätze von Frauengruppen in armen Stadtteilen zur Zeit sehr viel spannender und muss immer wieder an kurdische Kriegsflüchtlinge rund herum um Izmir denken, wenn ich über meine eigene eventuelle politische Betätigung in der Zukunft nachgrüble.
Dies ist alles sehr subjektiv und von meinen eigenen einseitigen Erfahrungen geprägt. Ich glaube nicht, allgemeingültige Antworten zu haben.
Eine für mich ernst zu nehmende Perspektive müsste Brücken zu den wirklich Marginalisierten schlagen, heraus aus dem gemütlich-bürgerlichen Kokon.

Interview: Bernd Drücke, Anfang Januar 2006

 1   Vgl.: Bernd Drücke: Ot Kökü – Graswurzelbewegung in der Türkei. Ein Gespräch mit dem Anarchisten und Kriegsdienstverweigerer Osman Murat Ülke, in: GWR 253, November 2000, S. 1, 6 f.
 2   Vgl. : www.graswurzel.net/news/tarhan-pressespiegel.pdf
 3   Vgl.: Bernd Drücke: Die anarchistischen "Feuerdiebe". Libertäre Gegenöffentlichkeit in der Türkei und in Türkisch-Kurdistan, in: GWR 236, Februar 1999, S. 6
 4   Fast alle Otkökü-Texte finden sich auf der GWR-Homepage. Zur Geschichte der Otkökü siehe auch: Manfred Horn: "Merhaba Deutschland". Bilinguale, deutsch- und türkischsprachige Print- und Hörfunkmedien in der Bundesrepublik, ibidem-Verlag, Stuttgart 2004. Auszüge daraus: www.graswurzel.net/news/otkoku-dipl.shtml

Kontakte:
* Eine antimilitaristische Webseite, über die auch koordiniert wird, kann kontaktiert werden über: bilgi@savaskarsitlari.org
* kara mecmuA (türkisches anarchistisches Magazin aus Istanbul): www.mecmu-a.org
* Anarsist Bakis (Online-Archiv anarchistischer Texte): http://go.to/anarsistbakis
* ABC/Anarchist Black Cross: abcankara@yahoo.com
* Imlasiz: www.imlasizdergi.cjb.net-anarchistmagazine (der link ist mittlerweile tot)
* Isimsiz – anarchist counter-magazin: isimsiz_dergi@yahoo.com
* KaosGL (libertäres Schwulen-/Lesbenmagazin und -Gruppe): www.kaosgl.com
* Kara Kizil: html.karakizil.tr.cx-anarchocommunistgroup (der link ist mittlerweile tot)
* KAOS – anarchistischer Verlag (türkisch/englisch) in Istanbul: Kaos Yayinlari, Piyerloti Cd. Dostlukyurdu Sk. No. 8, Cemberlitas - Istanbul, Tel. 0090-212-5182562, www.geocities.com/kaosyayinlari (der link ist mittlerweile tot)
* Solidarität mit Mehmet Tarhan (und anderen KDVerInnen und DeserteurInnen): www.connection-ev.de
www.graswurzel.net

Eine Kurzversion dieses Interviews erschien unter dem Titel  Ein neues Verständnis von politischer Arbeit  Anarchismus und Antimilitarismus in der Türkei. Ein Interview mit Osman Murat Ülke (Izmir), in: GWR 306, Februar 2006



Nachtrag 1 zum Interview mit Osman Murat Ülke

Februar 2006. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte am 24. Januar 2006 die Türkei, da sie beim Kriegsdienstverweigerer Osman Murat Ülke gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen habe. "Die zahlreichen strafrechtlichen Verfolgungen in Verbindung mit der Möglichkeit, dass er einer lebenslangen Strafverfolgung unterliegen könnte, stehen im Unverhältnis zu dem Ziel, die Ableistung des Militärdienstes sicherzustellen."
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist in seinem Urteil lediglich auf die unmenschliche Behandlung von Kriegsdienstverweigerern in der Türkei eingegangen, hat aber nicht die Durchsetzung des Menschenrechtes auf Kriegsdienstverweigerung eingefordert. In zahlreichen Beschlüssen, zum Beispiel der Parlamentarischen Versammlung des Europarates wie auch des Europäischen Parlamentes und der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, wird dieses Menschenrecht eingefordert. "Wieder einmal wurde hier die Chance vertan, ein klares Votum für das Recht auf eine Gewissensentscheidung zu setzen", so Connection e.V., eine Hilfsorganisation für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer.
Die volle Anerkennung des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung durch die Türkei muss endlich durchgesetzt werden.
Anlässlich der Urteilsverkündung droht die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bemängelte Strafverfolgung auch all denjenigen türkischen Wehrpflichtigen, die aus der Türkei geflohen sind, weil sie die Ableistung des Dienstes im türkischen Militär verweigern. "Es ist unverantwortlich, wie ignorant deutsche Verwaltungsgerichte mit der Gewissensentscheidung der Betroffenen verfahren. Mit Verweis auf Reformen im Zuge der Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union werden zunehmend Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei in den Asylverfahren abgelehnt. Dabei hat sich an ihrer Strafverfolgung nichts geändert", so Connection e.V.

Das Urteil findet sich unter www.echr.coe.int/Eng/Press/PressReleasesCMS.htm


Nachtrag 2 zum Interview mit Osman Murat Ülke

März 2006. Das Militär-Berufungsgericht in Ankara hat am 10. März 2006 die Haftentlassung des türkischen Kriegsdienstverweigerers Mehmet Tarhan verfügt. Das Gericht entschied, dass er bei einem endgültigen Urteil mit großer Wahrscheinlichkeit keine höhere Haftstrafe zu erwarten habe, als er bisher verbüßt hat. Mehmet Tarhan wurde vom Berufungsgericht gleichwohl erneut zur Ableistung des Militärdienstes aufgefordert. Er entschied sich jedoch, dieser Aufforderung nicht nachzukommen. Er ist in guter Verfassung und besucht derzeit seine Familie. In der Entlassung von Mehmet Tarhan kann ein großer Erfolg der internationalen Solidaritätskampagne gesehen werden. Das kann ein erster Schritt sein: Die Türkei muss das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung anerkennen.

Weitere Informationen: www.Connection-eV.de/Tuerkei/tarhan.html

 




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