Karin Kramer Verlag Leseproben

WIDERSTAND UND KUNST
Beiträge und Materialien zum Leben & Werk von Gustav Kramer 1911 - 1972

Herausgeber Bernd Kramer
Mit Beiträgen von Armin Breidenbach, Bernd Kramer, Herbert Stubenrauch, Marita Weishoff
3-87956-297-0  /   238 Seiten  /  zahlreiche Abbildungen schwarz-weiß und farbig  /  Format 17,5x25, Schutzumschlag
Euro (D) 29,80  /  sFr 50,40



INHALT

Urs Diederichs
Vorwort "Widerstand und Kunst" - Gustav Kramer

Bernd Kramer
Erinnerungen an meinen Vater

Stubenrauch   Herbert Stubenrauch
Freiheit im "Ruinen"-Atelier

Lebenslauf von Gustav Kramer (1911 - 1972)

Armin Breidenbach
Verfolgung und Widerstand in Remscheid 1933 - 1945. Ein Beispiel: Gustav Kramer

Das Flugblatt "Der junge Bolschewik" - August 1933

Abschrift des Geständnisses von Gustav Kramer

Abschrift der Aussage der Mutter von Gustav Kramer

Anonym

Wir sind die Moorsoldaten

Das Urteil - Im Namen des Deutschen Volkes! - 20. Juni 1934

Gnadengesuch

Aus der Krankenakte

Aus der Gestapo-Akte: Gustav Kramer. Spitzelberichte

"Wiedergutmachung"

Bernd Kramer
"Ich sehe keine Veranlassung..."

Gustav Kramer
Der Künstler, die Kunst und die Gesellschaft
Meinungen über die Notwendigkeit der Kunst
Freiheit zu schaffen - Freiheit zu darben. Brief eines Künstlers an einen jungen Freund
Die Situation in der bildenden Kunst
Das seltene Exemplar eines Künstlers
Brief an den Remscheider General-Anzeiger zu den Zwischenfällen in der Berliner Gedächtniskirche im Januar 1968
Brief an den Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, 9. November 1968

Gustav Kramer
Kurze Geschichten
Es war im Jahre X.
Aufstand der Gartenzwerge
Der liebe Gott
Was meinen Sie?
Luftalarm 1966?1944
Auf den Selbstschutz kommt es an
Was gehört zum Luftschutzraumgepäck?

Ausstellungen
Heinz L. Roux - Begleittext zur Ausstellung im Stadttheater Remscheid
September - Oktober 1961

Gustav Kramer - Werdegang

Werner Köser - Begleittext zur Ausstellung im Stadttheater Remscheid Mai 1965 - 133

Heinrich Hahne - Rede zur Ausstellungseröffnung am 3. Februar 1968 in Remscheid

D. Nieuwenhuis - Rede zur Ausstellungseröffnung am 13. Juni 1969 in Berlin

Marita Weishoff
Einzelausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen von Gustav Kramer

Gustav Kramer: Selbstporträts

In den Ateliers von Gustav Kramer

Bernd Kramer und Marita Weishoff - Gustav Kramer im Spiegelbild der Presse

Weitere Hinweise auf das künstlerische Schaffen von Gustav Kramer

Fragmentarisches Werkverzeichnis

Skizzen und Entwürfe

Danksagung

Abbildungsverzeichnis und Quellennachweise

Personenverzeichnis




 

Herbert Stubenrauch
Freiheit im "Ruinen"-Atelier

Es war im Herbst 1956. Ich war wegen einer Liebesaffäre mit einer Mitschülerin gerade vom Röntgen-Gymnasium in Lennep geflogen und besuchte jetzt die Unterprima des Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasiums in Remscheid.

Die Bundeswehr war aufgestellt, und ich zählte als Angehöriger des Jahrgangs 1938 zu den ersten Wehrpflichtigen. Zum Glück gab es Artikel drei des Grundgesetzes - "Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden" - und ich wollte den Kriegsdienst verweigern. In meiner Klasse gab es heftige Diskussionen darüber, ob wir uns nach den zwei Weltkriegen und der Nazizeit wieder bereithalten sollten, zum Töten ausgebildet zu werden. Im Unterricht war dieses Thema tabu, die Lehrer schwiegen, wie diese ganze Generation der Väter in den fünfziger Jahren.

Zwei meiner Klassenkameraden - Dieter Alvermann und Friedrich Jaspers - teilten meine Verweigerungshaltung. Aber mit wem sollten wir darüber sprechen? Einer schlug vor: "Da oben in der Innenstadt lebt ein Künstler in einer ausgebrannten Ruine, der war Kommunist, der hat unter den Nazis im KZ gesessen, der ist nicht nur Maler und Bildhauer, der ist ein freier Geist. Besuchen wir den doch mal! Er heißt GUSTAV KRAMER."

An einem Novembernachmittag standen wir drei vor dem schmiedeeisernen Tor zu dem verwilderten Garten einer ausgebrannten Bürgervilla ("Ex-Villa-Lindenberg", heute steht an dieser Stelle der Neubau der Stadtbücherei). Am Hintereingang fanden wir eine provisorische Holztür, die nicht verschlossen war. Gustav Kramer, 1959Wir machten uns bemerkbar, und dann trat uns Gustav entgegen, ein freundlicher Mann, Mitte vierzig, im Habit des "typischen Bohemiens" mit Baskenmütze, Existentialisten-Pullover, Pfeife im Mund, eine blaue Arbeitsschürze umgebunden. Diese war ebenso mit Farbe beschmiert wie seine Hand, die er uns einladend entgegenstreckte. Er führte uns in seinen Wohnraum, der gleichzeitig Atelier war - und schon befanden wir uns in einer anderen Welt.

Wir kamen aus dem Staunen nicht heraus. Das Ganze war eine bis auf die Außenmauern ausgebrannte Ruine. In einer Ecke des Innenraumes - ringsum die brandgeschwärzten Außenmauern, die bis zum zweiten Stock mitsamt den leeren Fensterhöhlen stehengeblieben waren - hatte er sich einen unteren Raum notdürftig und gleichwohl mit Matratzenliegen gemütlich hergerichtet; eine Hühnerleiter führte in einen darüber liegenden Raum, ein Privatgemach. Die Wände waren bedeckt mit Gemälden, überall standen Plastiken und Skulpturen. Ein großer Arbeitstisch und mehrere Staffeleien dominierten den Raum.

Gustav - sofort forderte er uns auf, ihn so zu nennen, obwohl er unser Vater hätte sein können - kochte Kaffee. "Wollt ihr auch einen Klaren dazu?" und das Gespräch begann. Wir blieben sicherlich drei Stunden bei ihm, er hörte zu, er sprach nicht viel von sich, wir redeten über Politik, Geschichte, Frankreich, die Kunst, die Nazis und das Leben.

Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft

Für mich war mit diesem ersten Besuch das Tor zu einer neuen Welt und zu neuen Erfahrungen aufgestoßen worden. Diese Begegnung war die erste von zahllosen anderen in seinem Ruinen-Atelier, von 1956 bis 1965, dann verlor ich Gustav aus den Augen, weil ich nach Frankfurt übersiedelte.

Erst viel zu spät erfuhr ich von seinem Tod, so daß ich auch nicht dabei sein konnte, als er 1972 beerdigt wurde.

Aber jetzt, im Jahr 2004, zweiunddreißig Jahre später, möchte ich ihm mit dieser Erinnerung ein kleines Denkmal als Dank widmen, ein Denkmal, das konkret und metaphorisch "Freiheit im Ruinen-Atelier" heißt.

Und neues Leben blüht aus den Ruinen

"Das Alte stürzt, es ändern sich die Zeiten - und neues Leben blüht aus den Ruinen…" Dieser Schiller-Satz feierte nach 1789 die französische Revolution. Wie sollte er für Gustavs Domizil in den fünfziger Jahren in Remscheid gelten?

Ringsum herrschten nachhaltig und vornehmlich die alten Nazis, die sogenannte "Vergangenheitsbewältigung" wurde weitgehend so behandelt, als bedürfe es des Schüttelns eines Mantels, um den Staub einer schlechten Wegstrecke loszuwerden. Die Millionen Opfer des Nazi-Regimes, des Weltkrieges wurden verleugnet oder mit den eigenen Kriegs-,Vertriebenen- und Bombentoten aufgerechnet. Im Kalten Krieg wurde gegen den Kommunismus mobil gemacht. Das Alltagsleben bestimmten die "sauberen" Kategorien der Naziideologie - Ruhe, Ordnung, Sauberkeit, Gehorsam -, die Dekorationskerze auf dem Couchtisch wurde nie angezündet, aber immer Staub gewischt. Der Greis Adenauer stand an der Spitze des Staates und verkündete mit "Et wird allet wieder jut" Balsam für die verletzten Seelen.

Viele der Nazi-Mörder liefen nicht nur frei herum, sondern saßen in den Richterstühlen, lehrten von den Universitätskanzeln - und überlebende Opfer des Naziterrors mußten, wie Gustav Kramer, um ihre bescheidene Wiedergutmachung kämpfen.

Damals, in den fünfziger Jahren, habe ich sehr wenig erfahren und gewußt von den Qualen und Beleidigungen, die Gustav bei den Nazis und in der Nachkriegszeit zu erleiden hatte. Er hielt sich da in der Regel sehr bedeckt, er stilisierte sich nicht als Opfer. Vieles, was an Fakten in diesem Bändchen zusammengetragen ist, hat vor allem Gustavs Sohn Bernd Kramer mit beharrlichem Bemühen herausfinden können.

Diese Ruine war ein Symbol, zertrümmert von den Bomben der Alliierten, die der Mörderbande der Nazis Einhalt gebieten wollten. So kaputt war die Vergangenheit. Und doch gab es Platz, provisorischen Raum für den Ansatz einer möglichen neuen Gesellschaft - ein Atelier, eine Werkstatt der Kreativität, der kunstvollen und bereichernden Lebensqualität, ein Ort der Reflexion, der Diskussion, der Aufklärung.

Durch die leeren Fensterhöhlen leuchtete Freiheit, Freiheit des Wortes, des Denkens, der Kritik und der Zivilcourage: Sag Nein, wenn du nicht töten willst! Verweigere dich den Zumutungen der Mehrheit, mach die Augen auf, sieh hin, beurteile und handele! Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom. Wildwuchs statt Spalierobst. Schönheit, Liebe, Lebensfreude statt blindem Gehorsam und selbstlähmender Anpassung.

Gustav, der Hausherr im Ruinen-Atelier, hat nie gepredigt, er hat es vorgelebt. Und damit wurde er, ohne es je gewußt oder gewollt zu haben, zum Brandbeschleuniger beim Feuer meines inneren Aufruhrs.

Lüttringhausen, gemeinsame Herkunft

Wir beide hatten eine gemeinsame örtliche Herkunft. Er wurde 1911, ich 1938 in Lüttringhausen geboren. (Am 22. Oktober 1982 wurde eine Gedenktafel zur Erinnerung an die verurteilten und hingerichteten politischen Gefangenen im ehemaligen Zuchthaus - heute Justizvollzugsanstalt - Lüttringhausen angebracht. - Siehe nächste Seite.)

Aber wir wuchsen nicht nur in einer anderen Generation, sondern auch in sehr verschiedenen Milieus auf. Gustavs Vater war Arbeiter in einer Schlittschuhfabrik, trat 1933 der SA bei und 1934 der NSDAP. Gustavs Mutter zog vier Kinder auf. Gustav machte eine Lehre als Dreher, wurde arbeitslos und ging auf Wanderschaft. Er wurde Mitglied der Jugendorganisation der KPD. Sein Vater bei der SA - man muß sich diese Konstellation vorstellen!

Mein Vater hingegen war Postmeister in Lüttringhausen. Auf diesen Posten hatte er sich vom Briefträger mit Fleiß und Disziplin emporgearbeitet. Meine Familie, ich habe noch zwei ältere Brüder, wohnte in einer großen Dienstwohnung im Postamt und wir drei Jungs konnten, erstmalig in der Familiengeschichte, das Gymnasium besuchen. Außerdem waren meine Eltern sehr fromm. Die Staatskirche erschien ihnen zu säkularisiert und deshalb gehörten sie einer evangelisch-freikirchlichen Gemeinde an.

Außerdem hatte im Bergischen Land der aus Gummersbach stammende Reichsminister Robert Ley großen Einfluß auf die von Deklassierung bedrohten Bergischen Frommen. Plötzlich riefen viele "Heil Hitler", obwohl ihr Glaubensheiland jüdischen Namens war. Als siebzehnjähriger Gymnasialjunge begann ich, mich für Politik und für die Vergangenheit zu interessieren.

Ich las die Tagebücher der Anne Frank, das Buch des Arztschreibers in Buchenwald, sah den Film "Nacht und Nebel" in der Volkshochschule.

Im Gymnasium gab es keinen Platz für diese Erfahrungen, auch nicht für mein geistiges Ringen mit der Religion meiner Eltern, noch weniger mit dem Aufruhr der Pubertät und der sexuellen Entfaltung.

Mein Fischer-Taschenbuch mit Werken von Nietzsche, das ich von dem Geld gekauft hatte, welches ich als radelnder Telegrammbote verdiente, konfiszierte mein Vater und warf es in den Küchenofen. Mein geheimes Tagebuch, das ich als verliebter Oberschüler schrieb, erbrach meine Mutter und übergab es ebenfalls dem flammenden Inferno.

Ich fühlte mich als ein um Sinn im Zweifel ringender junger Mann, lebenshungrig, erfahrungs-neugierig, ein im Käfig gut versorgter Vogel, dem es verboten war, die Flügel zu entfalten.

Das war die Lebenssituation, in der ich Gustav Kramer traf.

Begegnung zweier Lebenswelten

Damals wußte ich die Bedeutung dieser Begegnung gar nicht einzuschätzen. Ich lebte und genoß. Sicherlich dreimal in der Woche trafen wir uns bei ihm.

Der Freundeskreis von Oberschülern erweiterte sich. Mittlerweile war ich zum Schulsprecher am Ernst-Moritz-Gymnasium gewählt worden. Wir gründeten Im Ruinen-Atelier 1962einen "Politisch-Literarischen-Club" und einen Filmclub, zu dem wir auch - wie sollte es anders sein - einige Mädchen vom benachbarten Gertrud-Bäumer-Gymnasium einluden, wir veranstalteten einmal im Monat einen Tanztee, trafen uns zweimal monatlich zu Lesungen und Diskussionen, z.B. über Albert Camus und Bertolt Brecht.

Bei uns zu Hause waren solche Treffen undenkbar, wo fanden sie statt? Natürlich bei Gustav im Ruinen-Atelier, das war unser Zentrum geworden, ein Ort des freien Gedankens und des widerständischen Geistes, der in unseren Gymnasien keinen Platz hatte.

Gustav war kein Guru, kein Mensch, der die Wahrheit gepachtet hatte und wußte, wo es lang ging. Er war einfach da, schaffte eine Atmosphäre von Freiheit und Kreativität, ermutigte und förderte das wilde Umherflattern junger suchender Menschen. Heute würde eine solche Institution ein alternatives Jugendzentrum von traumhafter Qualität sein.

Gustav kochte wie ein guter Vater Kaffee, schenkte gerne Korn aus, freute sich an der Wachheit und Schönheit der jungen Leute, gab auf Fragen kurze, oft ironische Antworten, hatte immer Zeit und immer Geldnot - kurz, er war für uns nicht nur Künstler, der uns den Raum der Kunst durch die Präsenz seiner Werke eröffnete, sondern ein Lebenskünstler.

Im Atelier war ein dauerndes Kommen und Gehen - Künstlerkollegen und Künstlerfreundinnen, von denen mir vor allem Irma von der Mühlen in Erinnerung ist.

Gustavs Sohn Bernd, nur wenige Jahre jünger als ich, machte sich als Schriftsetzerlehrling bemerkbar, indem er im Keller der Atelier-Ruine eine kleine, geheime Druckerei installierte. Dort produzierte er eine Monatszeitschrift, alles im Handsatz und mit kühnem Umbruch, mit dem Titel "das experiment - unabhängige zeitschrift der jugend. herausgeber und hersteller bernd kramer. redaktion klaus schmidt. remscheid". Der später als "Kommunarde" bekannt gewordene Rainer Langhans war damals auch schon dabei.

Mutige Texte waren da versammelt, mutig für die feige Zeit, und ich selbst habe dort meine erste lyrische Arbeit mit dem Titel "In dieser Nacht" veröffentlicht, ein Gedicht, das sich mit der Folter in Algerien und Südafrika befaßte.

Es wird deutlich, dieses Ruinen-Atelier von Gustav Kramer war in Remscheid ein wahrlich multifunktionaler Raum: Brutstätte für "subversives Tun" , Hochschule der Aufklärung, Freie Akademie der Künste, eine Heimstätte für Widerstand und Eigensinn in einer weitgehend gleichgeschalteten Umgebung. Kurz: Der Traum von einer anderen Welt und Lebensform.

Zwei Feste der besonderen Art

Zwei Daten sind in meinem Gedächtnis mit Gustav und seinem Atelier verschweißt:

Der erste Oktober 1959 und Sylvester 1965/66.

Im März 1958 hatte ich am Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium Abitur gemacht und studierte nun in Wuppertal an der Pädagogischen Akademie. Meine Freundin Dorothea Giebel war schwanger, wir mußten heiraten. Diese für den guten Ruf der Familien schändliche Tatsache hatte zur Folge, daß weder meine Eltern noch die der Freundin bereit waren, irgend etwas für ein Hochzeitsritual zu tun. Wobei anzumerken ist, daß wir beide in unserem Freiheitsflug aus den bürgerlichen, spießigen Konventionen es auch nicht unbedingt wollten. So luden wir unsere Freunde zu einem Fest der Liebe und der Vorfreude ein, zu einem großen und rauschenden Fest. - In Gustavs Ruinen-Atelier, wo sonst?

Gustav hatte alles liebevoll geschmückt, die etwa 20 Gäste kamen, es gab Lambrusco und Nudelsalat, George Brassens sang seine Lieder auf der scheppernden Single-Platte, ich rezitierte aus dem Walt Whitman Poem "Die Grasharfe", wir tanzten und freuten uns an unserem Leben.

Da kam Gustav und schenkte uns eine seiner schönsten Holzplastiken. Ich habe sie "Die Bewahrende" genannt, eine Mutterfigur, mit schützender Geste ein Kind im Arm wiegend. Einfach so! Er, der kaum etwas mit seiner Kunst verdiente, schenkte sie uns aus Freude am werdenden Leben.

Als unser Sohn im Februar 1960 zur Welt kam, gaben wir ihm den Namen Til. "Til Ulenspiegel" von de Coster hatten wir bei Gustav im Atelier gelesen und uns war klar, der Held der Zukunft konnte nur ein Narr, ein Verweigerer, ein Humorist sein - und eben kein Jung-Siegfried.

Bis heute steht "Die Bewahrende" in meinem Zimmer und begleitet mich in freudigem Erinnern an diese Jahre.

Und dann die Sylvesterparty bei Gustav zur Jahreswende 1965/66.

Ich war mittlerweile Lehrer an einer Grund- und Hauptschule in Wuppertal-Wichlinghausen - und wurde zum zweiten Mal aus der Schule geworfen. Wegen meines Engagements bei den Ostermärschen gegen die Atombewaffnung und wegen meiner Tätigkeit als Bundesvorsitzender des Verbandes der Kriegsdienstverweigerer hatte ich vom Regierungspräsidium in Düsseldorf die Sylvester 1965/1966Suspendierung vom Schuldienst und die Einleitung eines Disziplinarverfahrens zum Zwecke meiner endgültigen Entfernung aus dem Schuldienst erhalten.

Der damalige Wuppertaler SPD-Landtagsabgeordnete Johannes Rau unterstützte mich, und ich ließ mich quasi als politischer Flüchtling ins damals "rote Hessen" versetzen.

Meinen Abschied vom Bergischen Land feierten wir in Gustavs Atelier in der Schüttendelle, Sylvester 1965/66.

Es wurde ein riesiges Happening, das Wetterleuchten der 68er Kulturrevolution machte sich bemerkbar. Etwa fünfzig Leute trafen sich, Gustav hatte das Atelier mit indirekten Scheinwerfern gespenstisch erleuchtet; Ochsenköpfe vom Schlachthof besorgt und aufgehängt; überall hingen Leinwände, auf die die Gäste malen konnten; die frühen Beatles hämmerten ihren Sound durch das Atelier. Wahrlich der Aufbruch in eine neue Zeit.

Und Gustav war einfach mittendrin im Getümmel, der eigentliche "spiritus loci", der Ermöglicher und Ermutiger. - Welch ein Fest!

So ist die Welt und müßt´ nit so sein

Ich zog nach Frankfurt, studierte noch einmal, engagierte mich im SDS und in der 68er Bewegung, kurz: Ich hatte fliegen gelernt. Gustav hatte den Frei- und Erfahrungsraum dafür geschaffen. Solidarität, Güte, Großherzigkeit und kritisches Denken hatte ich von ihm gelernt.

Er, der sich als ehemaliger Kommunist zum Anarchismus bekannt hatte, der die fundamentalistischen KPD-Genossen 1939 nach dem Hitler-Stalin-Pakt rausgeworfen hatte, der unter den Quälereien der Nazi-Schergen im KZ-Börgermoor gelitten hatte, der im KZ-Kemna zum Halbinvaliden geprügelt worden war, er hatte uns vorgelebt, wie ein Leben im aufrechten Gang möglich war.

Wir Jugendliche wuchsen in den fünfziger Jahren auf einem gigantischen Friedhof von Gräbern der Ermordeten heran. Nun hatten wir einen väterlichen Freund gefunden, der dem Unrecht und der Barbarei widerstanden hatte und uns ein anderes Leben - ein anderes Deutschland vorlebte.

Kid Orys "Basin street blues", die Lektüre von Traven, Heine, Tucholsky - das konnten wir doch nicht in unseren bigotten Elternhäusern kennenlernen, sondern bei Gustav. Zu antiklerikalem, antimilitaristischem, antiautoritärem Denken erfuhren wir doch nichts in der Schule, sondern bei Gustav. Und wir lernten einen Menschen kennen, der einen hohen Preis für seine Existenzweise hatte zahlen müssen. Die Nazis hatten ihn - im Wortsinne - gedemütigt, geschlagen, geprügelt und gequält.

"Seltsam diese Kombination von lebensbejahender Beweglichkeit und entsetzlichem Rückzug", erinnerte sich Bernd Kramer 1982 an seinen Vater.

Gustavs strahlende Lebensenergie und seine Kreativität hatten auch ihre Schattenseiten in einer tiefen Traurigkeit und Bitternis. Zu oft hatte er erfahren müssen, zu welcher Niedertracht Menschen fähig sind. Um den Schmerzen zu entkommen, hatte er sich im KZ-Kemna die Pulsadern aufgeschnitten. Er wußte um die Abgründe menschlicher Existenz, er hatte sie durchlitten und sagte gleichzeitig: "So ist die Welt und müßt´ nit so sein" (Brecht, Mutter Courage).

Gustav war kein strahlender Held, er war ein aufrechter Widerständiger, ein Revolutionär des Alltagslebens. Das hat ihn für mich so bedeutsam gemacht in seinem Ruinen-Atelier.

Ein fröhlicher Passagier auf einem Narrenschiff? Nein, ein gebrochener Mann, der trotzdem oder gerade deshalb so viele junge Menschen ermutigt hat, ihnen Kraft gab zum Aufbruch und zum Ausbruch.

Auf seinem Denkmal sollte eingemeißelt stehen:

ER HAT UNS DIE MITTEL ZUR SELBSTBEFREIUNG GEZEIGT,

ER HAT VORSCHLÄGE GEMACHT,

WIR HABEN SIE ANGENOMMEN.


Frankfurt am Main, 14. Januar 2006





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