Karin Kramer Verlag Leseproben

Bodo Saggel
DER ANTIJURIST  ODER  DIE KRIMINALITÄT DER SCHWARZEN ROBEN
3-87956-234-2  /  144 Seiten  /  zahlreiche Abbildungen
Euro (D) 13,--  /  sFr 22,90


INHALT

Gedicht: 1966
Vorwort   Vorwort: Klaus Eschen
Der Antijurist
Berufserhaltungswille
Resozialisierung
Die grünen Götter der Unterwelt
Gegen die Abschreckung
Die Justisten
Vom Sinn der Strafe
Der juristische Instinkt
Ganovenzucht
Entmannung
Bruch-Stücke aus meinem Leben
Kampfschrift   Kampfschrift
Haschisch, Opium, Meskalin für ein freies Westberlin
Ein Dokument: Kampf dem Opium...
Noch ein Dokument
Kontakte zur Apo und zum SDS
Zentralrat der umherschweifenden Knastrebellen
Ein schlagkräftiger Rückblick
Wie Klaus Kinski sich einmal selbst umlegte
Gedichte und Aphorismen
Tag X
Nachwort   Nachwort: Bommi Baumann / Günter Langer
Bodo, der "Superkultur"-Athlet




 

Vorwort - Klaus Eschen


Was ist das Bemerkenswerte an dem vorliegenden Buch von Bodo? Es gibt nicht wenige Literaten, die als sogenannte Kriminelle in Gefängnissen gesessen und Literatur produziert haben. Sie profitieren in nicht geringem Maße von der gesellschaftlichen Exotik, welche die in die Gesellschaft Heimgekehrten, aber noch mit dem Geruch der Gefängniszellen Behafteten, umgibt. Aber es sind Perlen, noch gerade im Kehricht entdeckt und aufgelesen. Bodo akzeptiert das nicht. Er streitet denen, die sich die Entscheidung darüber anmaßen, was Kehricht und was Perle ist, die Kompetenz hierzu ab. Er hat auf seinem langen Weg durch Fürsorgeheime, die Justizmaschinerie und Gefängnisse gelernt, daß nicht derjenige bestraft wird, der böse ist, und der Gute gelobt wird, sondern daß Strafen und Loben Mittel zur Durchsetzung von Interessen sind. Im Bereich der Justiz wird Gut und Böse, das, was sein soll, und das, was nicht sein soll, durch die Gesetze bestimmt. Die Gesetze werden erlassen von denen, die die Macht dazu haben. Das sind im kapitalistischen Staat die Herrscher über Produktion und Wirtschaft und ihre Hilfsinstitutionen wie Presse, Fernsehen, Kirche und systemtragende Parteien. Sie bestimmen über Lob und Tadel. Allerdings nicht selbst. Wenn sie es täten, würden die Massen das allzu schnell entlarven. Es wäre offenkundig, daß sie in eigener Sache urteilen, so sind sie gezwungen, eine Institution zu schaffen, die sie "Dritte Gewalt" nennen und die metaphysisch verbrämt auftritt, als schöpfe sie aus gesellschaftlich unabhängigen Quellen jenseitige Weisheit. Man nennt die Justiz unabhängig, um zu vertuschen, daß sie ausführt, was die Herrschenden ihr in Form der Gesetze befehlen. Auf diese Weise wird gesellschaftliches Unrecht, das durch die Justiz verübt wird, zunächst nur dieser, d. h. der Unfähigkeit von Richtern, Staatsanwälten, Rechtsanwälten usw., ihren reaktionären Haltungen, angelastet, und die Aggression wird von den eigentlich Verantwortlichen abgelenkt. Der Inhaber der Macht unterliegt gegenüber den Beherrschten dem Zwang, sein Herrschaftssystem legitimieren zu müssen. Er muß verhindern, daß die Beherrschten merken, daß sie gewaltsam beraubt werden. Sie müssen so erzogen werden, daß ihnen dieses räuberische System als gut und ein Umsturz desselben als böse erscheint. Die Unterscheidung zwischen gut und böse lernt das Kind daran erkennen, daß es für das eine Tun, das Folgsamsein gegenüber Befehlen, mit Liebe belohnt wird und für das andere Tun mit dem Entzug von Liebe, etwa in der Form von Zufügung körperlicher Schmerzen, bestraft wird. Das Kind erfährt, daß es zu schwach, also machtlos ist, sich den ihm gegebenen Befehlen zu widersetzen, auch wenn es sieht, daß es nur gezwungen werden soll, fremde Interessen über seine eigenen zu stellen.
Wenn den Unterdrückten ihre Unterdrückung bewußt wird, wird es für die Herrschenden gefährlich. Diese sind gezwungen, sich den ihnen Unterworfenen anzubiedern und die Fiktion aufzustellen, daß auch sie Unterworfene seien, die einer über ihnen und über der gesamten Gesellschaft stehenden Autorität zu gehorchen hätten: einem Gott mit seinen zehn Geboten, der Fügung eines unergründlichen Schicksals oder dem Lauf der Welt mit seinen Naturgesetzen. So hat es seine Funktion, wenn ein Kaiser barhäuptig in einer Feldkapelle kniet oder ein amerikanischer Präsident mit Tränen in den Augen verkündet, er folge wieder einmal dem Zwange seines Gewissens. Deshalb muß verkündet werden, vor einem übermächtigen Gesetz seien alle gleich, der Reiche dürfe ebensowenig stehlen wie der Arme und ein Millionär dürfe Frauen auch nicht schänden. Diebstahl ist rechtswidrige Aneignung. Welche Aneignungsform rechtswidrig ist bestimmt derjenige, der schon besitzt, also die Aneignungsform des Klauens nicht mehr nötig hat, dafür aber die der Ausbeutung abhängiger Arbeitskraft betreibt. Und der bestimmt, daß jemand, der einen Teil des so angeeigneten Reichtums mit der Brechstange für sich zurückholen will, im Gefängnis verschwindet.
Bodo durchschaut diesen Mechanismus. Er sieht den Interessengegensatz, den gesellschaftlichen Widerspruch zwischen Herrschern und Beherrschten. Im Gegensatz zu anderen straffällig Gewordenen, die häufig willens sind, integriert zu werden und sich entsprechend anzupassen versuchen, hält Bodo nichts von Resozialisierung in diesem Sinne, weil sie nur um den Preis erkauft werden könnte, daß er die Verfolgung seiner eigenen Interessen aufgibt und denen der Herrschenden dient. Er weiß, daß die Rückständigkeit und Ignoranz in Justiz- und Strafvollzug nicht Fehler und Mißstände in einem sonst funktionierenden System sind, sondern daß die Justiz nur in dieser Form ihre Funktion für dieses System erfüllen kann. Das System bedarf der Angst des Einzelnen vor der schwarzen Robe, der vergitterten Fenster mit Ausweglosigkeit, Diskriminierung und Ausstoß aus der Gesellschaft, um ihn "bei der Stange", also in seiner unterdrückten Position zu halten. Wer so erfährt, daß Justiz und Gesetz ein Unrechtssystem schützen sollen und das Akzeptieren dieses Unrechts Resozialisierung genannt wird, der muß sich fragen, ob er sich diesem System überhaupt anpassen darf.

Geschrieben Ende 1968.



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Germany, Dez. 1967
Kampfschrift


Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle: Bodo Saggel, Amateurverbrecher, Rebell und Juristenjäger. Meine Sorgen sind nicht Ihre Sorgen. Deshalb habe ich sie Ihnen zugeschickt, damit ich mich erleichtere und Sie beschwere. Was Sie damit sollen? Von mir aus zurück in den Briefkasten werfen, in den Ofen oder zu Ihrem Pastor bringen. Hauptsache, daß ich bald vor einem Gericht stehe! Wollen Sie mir einen Gefallen tun, mir für ein und alle Mal den Mund verbieten oder versuchen, mich dahin zu bringen, wohin ich gehöre, dann zeigen Sie mich bitte an, aber schnell! Denn die Wahrheit knallt mir wie eine Peitsche durchs Blut!

Hier meine Story: Aufgrund der glaubhaften Erzählungen meines Freundes Max Schlüter, eines Berufsverbrechers, der mir gegenüber die Justiz beschuldigte, den Gewohnheitsverbrecher statt zu bekämpfen, gedankenlos zu züchten, entschloß ich mich, durch günstige Umstände befeuert, 1955 freiwillig die Kriminalität der schwarzen Roben zu erforschen. Dazu mußte ich natürlich als Beobachter in Erziehungsheime, Jugendstrafanstalten, Gefängnisse und Zuchthäuser. Der einzige Schlüssel, der mir solche Häuser erschloß, waren Straftaten, die ich deshalb fleißig beging. Ich ließ mich von ihnen verraten, wurde verhaftet und bestraft. Mein Abenteuer war relativ kurz: Als 16jähriger kam ich ins Erziehungsheim, mit 18 in eine Jugendstrafanstalt, und danach landete ich im Gefängnis. Als 22jähriger "gefährlicher Rechtsbrecher" wurde ich zu 5 Jahren Zuchthaus, 5 Jahren Ehrverlust und Polizeiaufsicht verurteilt. Daß mir auf meinem Alleingang quer durch das Strafgesetzbuch prügelnde Erzieher, Schläger in Uniform, raffinierte Täuscher in schwarzen Roben, unschuldig verurteilte Häftlinge, lügende Polizisten und Unrecht über Unrecht begegneten, ist bei der Rechtsunsicherheit in einem "Rechtsstaat", der sich Bundesrepublik Deutschland nennt, kaum verwunderlich. Auch die Tatsache, daß ich selber Dieb und gemeiner Räuber wurde, als Widerständler Polizeibeamte besinnungslos schlug, Justizbeamte verprügelte, studienhalber in unartigen homoerotischen Kreisen verehrte, um festzustellen, ob Deutschlands Männlichkeit wirklich so halbseiden und gefährdet ist, daß sie es noch immer nötig hat, sich von dem Rosa-Paragraphen, der sie in aller Welt lächerlich macht, beschützen zu lassen; skrupellos zusah, wie der "Mittäter" unschuldig verurteilt wurde; im Zuchthaus Geld und Goldbarren besaß; zusammengeschlagen wurde, mit Pistole, Eisensäge und Schlüssel hantierte; als Kalfaktor meine Mitgefangenen unter Druck setzte, von biederen Justizbeamten erpreßt wurde - kurz, mich von den höchsten Höhen, die in solchen Häusern zu erklimmen sind, in die niedrigsten Tiefen (Arrestzellen und Glocken) fallen ließ, korrupte Beamte mich im Arrest mit Schnaps und Schinken versorgten; Lebenslängliche ohne korrekten ärztlichen Beistand sterben müssen; die creme de la creme der deutschen Unterwelt mit mir Freundschaft schloß, verblaßt neben dem hervorragenden Erfolg meiner Tour de Knast, nämlich neben der von Max entdeckten Tatsache, daß der sogenannte Gewohnheitsverbrecher, die eiserne Reserve der Justiz, in justitiellen Anstalten von den Verantwortlichen systematisch gemacht, also gewollt wird!

Ich klage jetzt verschiedene Amtsträger an, um mich als Kläger, nicht als Angeklagter, zum letzten Mal in eine Anklagebank zu setzen:

Ich behaupte, daß der Erzieher Franz Lepartz, Eußkirchen, ebenso ein Schläger ist wie sein Kollege Josef Rieth; daß der Maschinenmeister Arnold Schommer, Eußkirchen, es seinen Lehrlingen indirekt gestattet, vor ihren Gesellenprüfungen die Prüfungsaufgaben abzuschreiben; daß der Landgerichtsarzt Czygan, Essen, unter dem Deck-"Namen des Volkes", raffinierte Schuldpanschereien begeht; daß der typische deutsche Schuldalchimist, der Erste Staatsanwalt bei dem Landgericht Arnsberg, Dr. Westerburg, die grünen Schläger des Zuchthauses Werl beschützt; daß der Fernseharzt, Medizinaldirektor Dr. Busch, Werl, als Anstaltsarzt unzugänglich ist und durch seine ungute Behandlungstaktik wesentlich dazu beiträgt, daß die Gefangenen das Behandlungszimmer unter sich "Giftbude" nennen; daß der Werler Oberinspektor Möllman ein gemeingefährlicher Fluchthelfer ist und Leute, die ihm gefährlich werden, unschuldig von Oberregierungsrat Mies, früher Werl, ins Arrest stecken läßt; daß der Werler Hauptwachtmeister Trippe ein hinterlistiger Schläger ist, der seine mißhandelten Opfer nötigt, nicht gegen ihn auszusagen; daß der Werler Hauptwachtmeister Wichert, Schiedsrichter der Regionalliga West, ein gemeiner Schläger ist und mir die Schuhe, die er an meinem Kopf zertrat, in Rechnung stellte; daß der Essener Amtsgerichtsrat Dembeck einen meiner "Mittäter" unschuldig ein Jahr ins Gefängnis trickste; daß das Essener Rechtsanwaltsbüro "Teigelkamp und Gottschalk" der Wohnsitz eines abgebrühten Geldsaugers ist; daß Justizminister Neuberger, wenn er behauptet, es hätte jemals in Nordrhein-Westfalen einen Erstbestrafungsvollzug gegeben, genau wie seine Vorgänger im Amt des Justizministers, entweder bewußt die Öffentlichkeit belügt oder in seiner Kurzsichtigkeit selbst nicht weiß, was für einen Blödsinn er redet!

Diese Burschen genügen mir. Alle anderen justitiellen Ordnungsbrecher und Rechtswürger überlasse ich der Namenlosigkeit; sie werden in meinem Buch "Am Busen der Göttin" unter Decknamen erscheinen. Als Student der Knastologie und Gitterkunde stelle ich fest, daß alles, was man in Erziehungs- und Strafanstalten leichthin "Erziehung zum Menschen" nennt, in Wirklichkeit Abziehung vom Menschen ist: Erziehung zur Niedertracht, Erziehung zur Unverschämtheit, Erziehung des Willens zur Täuschung, Erziehung zum Sittlichkeitsverbrecher, Reizung zur Lust am Verbotenen, Erziehung zur Homosexualität (die größte Strafanstalt der BRD, die "Werler Schule", ist zum Beispiel die größte Kuppelmutter für Schwule).

Alle heimlichen und raffinierten Mittel werden von den Verantwortlichen angewandt, um sich ihre "eiserne Reserve", den Gewohnheitsverbrecher, zu erziehen und zu erhalten. Die deutsche Justiz ist durch die Kritiklosigkeit des Massenmenschen und die Feigheit deutscher Schriftsteller, die bis auf wenige Ausnahmen auch nur träge Masse sind, auf dem Minuspunkt, der auch der deutschen Politik einst zum Verhängnis wurde: sie ist ein verbrecherischer, durch und durch verseuchter Augiasstall. In ihren Palästen, hinter ihren schwarzen Roben, hohen Mauern und Würden, versteckt sich eine unübersehbare Anhäufung juristischer Scheiße! Den größten Teil ihrer Kraft verschwendet sie daran, das Image ihrer Gerechtigkeit zu verteidigen. Von einer Rechtssicherheit kann in der BRD überhaupt keine Rede sein. Alles ist bis in den Grund hinein durchlogen.

Die BRD ist nicht europareif. Ihr praktischer Jurismus ist das glänzende Beispiel eines zu Macht und Würden gelangten Afterrechts. Eines Tages wird die schwarze Raffinesse ihrer Täuscherjuristen sogar noch die Sonne hinters Licht führen. - Um einer moralischen Verdunklung vorzubeugen sind wir entschlossen, radikale Maßnahmen zu ergreifen:

Jetzt fordere ich Rechenschaft!!!

Unter anderem gingen Abschriften dieses Flugblattes an die UNO, an die LIGA FÜR MENSCHENRECHTE, an sämtliche Regierungen der Welt (Peking, Moskau, Paris, London, Washington, Havanna...), an weltbekannte Zeitungen (Times, Prawda und an alle großen deutschen Zeitungen und Zeitschriften), an Philosophen, Rundfunkanstalten, die Studentenvertretungen und den SDS und an alles, was Rang und Namen hat.

Die deutsche Justiz hat Angst und steht kurz vor einer Katastrophe. Deshalb wird sie mich jetzt, obwohl Fluchtgefahr und Verdunklungsgefahr nicht bestehen, in U-Haft nehmen; und wenn sie mich als ihre Gefahr erkannt hat, durch ihre Ärzte in eine Heil- und Pflegeanstalt einweisen lassen.

Ich appelliere an das Gewissen der Weltöffentlichkeit, darauf zu achten, daß mir ein fairer Prozeß gemacht wird.

Bodo Saggel
Essen
Stimme der Sprachlosen



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Nachwort
Bommi Baumann - Günter Langer
Bodo, der "Superkultur"-Athlet


Ku-Damm 140. Halbruine, 2. Stock. Das legendäre "Zentrum" des Berliner SDS, des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes.
Wir schreiben das Jahr 1968, das Jahr, in dem Martin Luther King jr. in Memphis angeblich von James Earl Ray ermordet wurde, eine Woche vor dem Attentat auf Rudi Dutschke, eben dort vor dem SDS-Zentrum auf dem Ku-Damm. Unruhen in allen großen Städten der USA, die berühmt-berüchtigten Oster-Unruhen in Berlin und anderen Städten der Bundesrepublik. Kurz vorher die legendäre Tet-Offensive des Vietcong, bei der die US-Bevölkerung lernte, was eine nationale Befreiungsbewegung in der Dritten Welt zu erreichen vermag. Wenig später der Mai-Aufstand in Paris und ganz Frankreich. Prager Frühling und und und...
Das "Zentrum" war berühmt im (West-)Deutschland jener Tage. Von hier aus wurde der Vietnam-Kongreß, hier wurde der 2. Juni vorbereitet, die Unruhen an den Berliner Unis, hier fanden die Jours fixes des SDS statt, der Gruppe, die sich als Avantgarde der "deutschen Studentenbewegung" sah. Neben den Büro- bzw. Versammlungsräumen gab es dort auch Zimmer, in denen SDS-Genossinnen und -Genossen wohnten. Die Adresse machte die Runde. Sie wirkte wie ein Magnet, sie zog die verschiedensten Leute an. Da kam zum Beispiel der "Bluesbreaker", ein wirrer Mensch, der sich sogar zeitweilig Schuhcreme als Rauschmittel zuführte. Es kam Hajo, ein runaway kid, das fürchtete, von seinem Vater ins Heim gesteckt zu werden, später als "Tröpfchen-Hajo" stadtweit bekannt. Unterschlupfsuchende Wehrpflichtige steuerten das "Zentrum" an, wie Manfred Grashoff, der später als RAF-Mitglied bekannt wurde. Desertierende GIs tauchten auf und benötigten Papiere zum Untertauchen. Die Genossinnen und Genossen halfen diesen Leute so gut sie konnten, sie gaben ihnen Ratschläge, Essen, Schlafmöglichkeiten oder was sie sonst so brauchten.

Auch Bodo Saggel, ein Mann aus Essen, fand sich in diesem revolutionären Jahr im "Zentrum" ein. Unschlüssig, was er nach seiner Knastentlassung machen sollte, trieb er sich auf dem Essener Bahnhof herum und las den "Spiegel", die Nummer mit dem Rudi Dutschke-Aufmacher. In dem Artikel wurde das "Zentrum" unter Angabe der Ku-Damm-Adresse erwähnt. Das war's.
Bodo brauchte keine Hilfe, Bodo war beeindruckt von diesen sich revolutionäre gebärdenden Studentinnen und Studenten, weil sie seiner Meinung nach für Gerechtigkeit in dieser sonst so ungerechten Welt eintraten. Das war genau auch sein Anliegen. Wo hatte er schon Gerechtigkeit bislang erfahren? 10 Jahre Knast für einige Eigentumsdelikte war keine Gerechtigkeit, so viel war ihm sicher. Das verstanden die SDSler. Bodo stellte sich auf einer stark besuchten Versammlung vor. Er wollte mitmachen. Die Genossinnen und Genossen waren's zufrieden. Sie akzeptierten ihn als Vertreter des sonst so unbekannten Proletariats, der nach Marx revolutionären Klasse. Bodo zog ins "Zentrum" ein und begann, seine Knasterfahrungen aufzuschreiben. Die Genossen waren solidarisch, sie halfen ihm, die Texte im Selbstverlag zu drucken und herauszugeben. Kein etablierter Verlag traute sich, ein solches Buch ins Programm zu nehmen. Bodo hatte Erfolg: Die Jura-Studenten, Referendare und linken Anwälte lasen die Texte wie Offenbarungen aus einer anderen Welt. Auf diesem Wege nahm Bodo Einfluß auf die damals in Schwung kommende "Justizkampagne" der APO. Der heutige Präsident des Berliner Verfassungsgerichts und damalige Partner von Horst Mahler und Christian Ströbele in der ersten "sozialistischen Anwaltskanzlei", Klaus Eschen, schrieb ein Vorwort, das noch heute bedenkenswert ist. Das Cover zeichnete "Löffel", ein Haschrebell. Aber so richtig verstanden sich die an Marx, Bakunin und Marcuse geschulten SDSler und der an Nietzsche geschulte Knacki Bodo nicht. Sie lebten nebeneinander her bis der SDS zerbrach und sich die Antiautoritären in Kommunen neu zusammenfanden. Es entstand die linke Subkultur und verband sich in Teilbereichen mit der sonstigen Jugendsubkultur. Die Haschrebellen traten auf den Plan. Bodo war einer von ihnen...
Bei den Haschrebellen mußte sich niemand für sein Tun oder für sein Nichtstun rechtfertigen. Totale Freiheit war angesagt, jegliche Unterdrückung verpönt, Hierarchien absurd. Hippitum und soziale Revolution. Anarchie wurde antizipiert, Drogen nicht länger verteufelt. Der Staat mit seiner Anmaßung, über das Konsumverhalten freier Individuen bestimmen zu wollen, hatte ausgespielt. Mao Tse Tungs Gezeter über "die Mentalität umherschweifender Rebellenhaufen" wurde in sein Gegenteil verkehrt: Der soziale Rebell hatte immer recht. Bodo war ein sozialer Rebell. Endlich konnte er Gleicher unter Gleichen sein, jenseits des Knastologenmilieus. Die neu entstehenden "proletarischen" Parteien hatten bei Bodo keine Chance. Selbst nach dreißig Jahren sind die Haschrebellen nicht tot, gibt es keine Nostalgie, lebt Bodo ihre Philosophie.

Bodo wurde unser Freund, unser Mitrebell, lebte mit uns zusammen, blieb konsequent unseren Prinzipen treu, selbst als wir von ihm zeitweilig abwichen. Keine Abwege in der Guerilla, keine Integration ins normale Berufsleben. Freiheit und Gerechtigkeit forever. Forever young. Bodo wird bald 60, aber noch immer nicht resigniert, immer auf der Suche nach neuen Erkenntnissen, neuen Erfahrungen. Wer fährt schon mit einem klapprigen alten Bus in die entferntesten Täler des Atlasgebirges und läßt die dortige Welt monatelang auf sich einwirken, nur um zu sich selbst zu kommen?

1969 plante der "Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen" eine Veranstaltung im TU-Audimax. Es sollte eine Manifestation der Freiheit werden, mit Unterstützung der Band "Agitation Free". Die Ziele unterschiedlichster Befreiungsgruppen dieser Welt sollten vorgestellt werden, Bodo wollte die Justizkampagne voranbringen. Heimlicher Plan: Wir wollten einen Koitus öffentlich zelebrieren und dabei Joints rauchen. In der Nacht vor dem Ereignis gab's irgendein Attentat oder Bankraub, und wir glaubten, die Bullen hätten's auf uns abgesehen. Wir blieben inkognito, der Koitus fiel aus. Bodo mit seiner Vorstellung der "Superkultur" und Ludwig mit seiner exzellenten Musik retteten den Abend. Trotz unserer Feigheit konnten wir für die Haschrebellen einen Erfolg verbuchen.

Bodo war immer stark wie ein Bär. Beim Armdrücken in der Wieland-Kommune mußten wir zu dritt gleichzeitig gegen ihn antreten, um überhaupt eine Chance gegen ihn zu haben. Er setzte seine Stärke nur zum eigenen Schutz ein oder wenn er Schwächeren zu Hilfe kam. Vor dem "Unergründlichen Obdach für Reisende", dem absoluten Szene-Treff am Fasanenplatz der Jahre 69/70, meinten einige gut bepackte Fieslinge, ihre Freundinnen verprügeln zu müssen. Bodo zögerte keinen Augenblick, ging auf den ersten los, versetzte ihm einen Hieb, griff sich den zweiten und tat mit dem das gleiche, der dritte rannte sofort davon. Die Frauen waren ob solchen Schutzes baß erstaunt, brachten es aber nicht fertig, sich wenigstens für diese Hilfe zu bedanken. Bodo hatte das aber auch gar nicht erwartet, er war mit sich und der Welt zufrieden.

Genosse Erich Langer, mehr als dreißig Jahre älter als wir alle, hatte einen Ein-Mann-Fuhrbetrieb und brauchte Hilfe. Bodo und er schlossen Freundschaft. Das ungleiche Paar arbeitete jahrelang zusammen. Erich organisierte Fuhren und Bodo schippte die Kohlen, schleppte Schränke oder was es sonst so gab. Irgendwann hatte Bodo jedoch genug von Berlin. Er zog sich zurück aufs Land, kaufte sich einen Bauernhof in Lüchow-Dannenberg. Jetzt ist er wieder in Berlin, in Kreuzberg, quicklebendig wie eh und je.




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